An diesem Ende der Insel gab es einen wahren Wald von abgeknickten Hartholzbäumen, und Kokospalmen lagen entwurzelt neben den traurigen Überresten von Pflanzen, die ich der breiten Blätter wegen für Bananenbäume hielt. Ich stöberte zwei eßbare Kokosnüsse und eine noch am Stiel hängende Vollreife Mango auf: ein Festmahl.
Aber der blaue Himmel blieb leer, und niemand kam.
Am nächsten Morgen war auch die graue, schwere See wieder zu karibischem Blau zurückgekehrt.
Um mir die Langeweile zu vertreiben, nahm ich den Hefter aus dem Safe, sah mir die Papiere der Reihe nach in der Sonne an und versuchte, aus den für mich unlesbaren Texten wenigstens ein bißchen klug zu werden. Eine Seite schien auf griechisch abgefaßt zu sein, da erkannte ich immerhin die Buchstaben fi und n, Omega und Pi.
In den Texten kamen viele Zahlen vor, und die Zahlen waren durchweg in lateinischer Schrift, also unserer normalen Druckschrift, geschrieben.
Ich ließ meinen Gedanken freien Lauf und fragte mich, ob es sich hier zum Teil um eine Bestandsaufnahme, einen Mengen- und Artenkatalog von Pilzen aus aller Welt handeln konnte, die in den jetzt zerstörten Schuppen gezüchtet worden waren.
Schön, dachte ich, aber wozu dann der Geigerzähler?
Ich legte den Hefter zurück und lauschte bei einem gemütlichen Spaziergang durch das Geisterdorf eine Stunde lang dem unregelmäßigen, aber doch immer wiederkehrenden Ticken, das von aktiver Strahlung kündete.
Daß der Geigerzähler tickte, hatte ich erwartet, da wir von Hintergrundstrahlung immer umgeben sind, die auf natürlichen radioaktiven Stoffen in der Erdkruste beruht und auf» kosmischer Strahlung«, das sind aus dem Weltall eintreffende Elementarteilchen, die die Sonne etwa zehn Minuten vorher aus hundertfünfzig Millionen Kilometern Entfernung abgefeuert hat.
Aber um die Grundmauern der weggewehten Häuser herum schien die Strahlung ziemlich stark zu sein. Hohe Meßwerte waren nicht ungewöhnlich. Die Bewohner Aberdeens, der schottischen Granitstadt, sind einer erhöhten Hintergrundstrahlung ausgesetzt, da Granit sehr viele radioaktive Teilchen enthält. Ich sah mich um und rief mir ins Gedächtnis, was mein Kollege in Miami gesagt hatte:»Bestehend aus Vogelmist, Guano, Korallen und Kalkstein.«
War Vogelmist radioaktiv? Wohl kaum.
Wenn ich den Stab an die Risse in den Betonböden hielt, hörte es gar nicht mehr auf zu ticken; und es tickte so schnell, daß ein anhaltender Ton daraus wurde.
Ich dachte an Radon. Ein Gas, das überall auf der Welt zum Problem werden kann, da es durch den Zerfall natürlich vorkommenden Urans entsteht, unsichtbar und geruchlos in Wohnräume eindringt und Krebs verursacht. Aber Radon, dachte ich, brauchte einen geschlossenen Raum, um sich zu konzentrieren, und der Hurrikan hatte keinen geschlossenen Raum übriggelassen. Außerdem enthielt Kalkstein wenig radioaktives Uran, das sich zersetzen konnte.
Was tickte da also? Waren die Inselbewohner vielleicht deshalb verduftet: nicht wegen Nicky, schon gar nicht wegen Odin, sondern aus Angst vor der radioaktiven Strahlung unter ihren Füßen?
Wenn der Geigerzähler um die Häuser herum heißlief, so hob er an den Grundmauerresten der Pilzschuppen regelrecht ab. Stirnrunzelnd lief ich über die ganze Rollbahn zurück, um festzustellen, ob etwa auch von der Viehherde eine erhöhte Strahlung ausging, aber zu meiner Erleichterung war das nicht der Fall. Offenbar hatte ich keine radioaktive Milch zu mir genommen.
Schließlich verlor der Geigerzähler seinen Reiz als Zeitvertreib, und ich legte ihn in den Tresor zurück. Wo auch der Hefter mit den so eingehend betrachteten Papieren wieder lag, die meine Sprachkenntnisse überstiegen.
Ich sperrte den Tresor ab, und wieder legte ich an der idyllisch reinen Luft ein Stück Holz zu einer anwachsenden Reihe. Jedes Stück Holz stand für einen Tag, und bis jetzt waren es vier. Vier lange Tage und noch längere Nächte.
Verzweiflung war ein zu starkes Wort.
Verzagtheit traf es vielleicht besser.
Als sie mich holen kamen, kamen sie bewaffnet.
Kapitel 6
An späten Nachmittag meines fünften Tages auf der Insel, als ich vor dem kleinen Sandstrand am Ende des Landestreifens im Meer schwamm, dröhnte ein zweimotoriges Flugzeug heran, ging elegant hinten über dem Dorf nieder und rollte fast über die halbe Landebahn, ehe es anhielt, wendete und dorthin zurückrollte, wo vor Odin die Ansiedlung gestanden hatte.
Jeden Tag hatte ich die leuchtend gelborange Schwimmweste mit Steinen beschwert mitten auf die Rollbahn gelegt in der Hoffnung, daß sie von einem niedrig fliegenden Flugzeug aus gesehen werden würde, und jedesmal, wenn die Rinder sie vollgesaut hatten, hatte ich sie an einer der verschmutzten Zisternen wieder ausgewaschen. Hocherfreut nahm ich also an, die Weste habe ihren Zweck erfüllt, und rannte ungeachtet meiner wehen Füße schleunigst den steinigen, gewundenen Pfad vom Strand hinauf, um mich meinen Rettern zu zeigen, bevor sie am Ende die Insel noch für verlassen hielten und wieder davonflogen.
In meinem Eifer, gesehen zu werden, dachte ich überhaupt nicht daran, daß die Ankömmlinge etwas anderes als freundlich sein könnten. Sie waren mit einer Maschine für gut achtzehn Passagiere gekommen, einem Flieger, wie er regelmäßig zum Personentransport zwischen kleinen Inseln eingesetzt wird. Genau dem richtigen Flieger, um die Inseln nach Hurrikan-Überlebenden abzusuchen. Zweckmäßig, ohne Firlefanz.
Ich war überrascht, aber nicht beunruhigt, daß niemand ausstieg, als ich in plattfüßiger Hast die Rollbahn entlanghechelte. Es war sengend heiß, und ich dachte nur an die Klimaanlage und die herrlich kalten Getränke, die da an Bord sein würden. Ich war noch etwa zwanzig Meter weg, als sich die hintere Tür öffnete, die Treppe ausklappte und fünf Gestalten die Stufen herunterkamen.
Sie hatten alle das gleiche an — metallisch glänzende Schutzanzüge mit großen, über die Schultern herabhängenden Hauben, in denen rauchgraue Plastikfenster das Gesicht ersetzten: eher Raumanzüge als das passende Outfit für einen brütend heißen karibischen Nachmittag. Ich hatte solche Monturen schon gesehen — Strahlenschutzanzüge. Was sie in den Händen hielten, hatte ich auch schon gesehen — tödliche schwarze Sturmgewehre, mit denen sie wie ein Erschießungskommando auf meine Brust zielten.
Ich blieb stehen. Ich fand es überhaupt nicht komisch, schon wieder Zielscheibe zu sein, aber diesmal klärte mich wenigstens niemand über meine» Rechte «auf. Niemand sagte mir, ich hätte das Recht zu schweigen und alles, was ich sagte, könne vor Gericht gegen mich verwendet werden. Von Gericht war keine Rede. Das Recht zu schweigen aber nahm ich mir heraus.
Einer der fünf nahm die Finger lange genug von seiner Waffe, um mich heranzuwinken, und da ein Fluchtversuch mir nicht geraten schien, trat ich langsam näher, bis sie mir bedeuteten, stehenzubleiben.
Sicher machte ich keinen gepflegten Eindruck. Ich trug nur, was Odin mir gelassen hatte: einen Slip und ein zerrissenes Hemd. Mein Kinn hatte einen dunklen Bartansatz, und meine Füße waren offen und geschwollen. Das Fernsehpublikum daheim, das mich geschniegelt und gebügelt kannte, hätte ungläubig den Kopf geschüttelt.
Die fünf Vermummten unterhielten sich eine Weile miteinander, waren aber zu weit weg, als daß ich sie hätte verstehen können. Ich gewann den Eindruck, daß es ihnen weniger darum ging, sich vor radioaktiver Strahlung zu schützen, als darum, unerkannt zu bleiben, falls ich sie später einmal wiedersah. Daraus ergab sich beruhigenderweise, daß sie wohl nicht vorhatten, mich kurzerhand umzubringen und meine Leiche ins Meer zu werfen, das Tote manchmal unverhofft wieder anspült, und es schien mir darauf hinzudeuten, daß sie nicht damit gerechnet hatten, daß ich auf der Insel sein könnte.