«Mir geht’s darum, wo Eins waagerecht ist.«
«Heißt das, du weißt nicht, wo du anfangen sollst?«
«So ist es, liebste Jett. Wo in aller Welt würdest du nach einem Hefter mit Aufträgen und Rechnungen suchen? Wo würdest du ihn aufbewahren, wenn er dir gehörte?«
Jett sagte, sie wisse es nicht, fragte aber, ob ich Veras Hefter aus dem Forschungsinstitut mit den Unterlagen über Harveys Stute meinte. Dieser Hefter und die Schachtel mit der Duftprobe seien noch in ihrem Wagen.
«Nein«, sagte ich, so ähnlich sich die beiden Hefter auch waren.»Der, den ich meine, ist zuletzt auf Trox in ein Flugzeug geschafft worden. Wo mag er jetzt sein?«
«Noch im Flugzeug?«Sie war verwirrt.
Ich schüttelte den Kopf.»Das Flugzeug war gemietet, da ist vor dem nächsten Start sicher alles ausgeräumt worden. Ich nehme mal an, daß einer der Trader den Hefter noch hat. Alles andere ist abwegig, es sei denn — «, ich unterbrach mich mitten im Satz, und erst als mein Atem sich beruhigt hatte, sagte ich:»Rufen wir Kris an.«
«Jetzt komme ich nicht mehr mit«, sagte Jett, aber immerhin erreichten wir Kris. Er und Bell aßen bei ihm zu Hause Thai-Reis und bliesen Trübsal.
Sie waren für den vorgeschlagenen kleinen Krankenbesuch sofort zu haben und rückten mit einem Sechserpack Bier an. Die lebhaften Erinnerungen an George und Glenda, die zwangsläufig im Raum hingen, ließen allerdings wenig Gelächter aufkommen.
Bell hatte auf meinen Wunsch Glendas Koffer mitgebracht, und Bell war es auch, die ihn öffnete, doch er enthielt nur ein wenig Kleidung zum Wechseln und keinen Hefter. Gut gedacht, aber Fehlanzeige.
«Komisch, daß du nach einem Hefter fragst«, sagte Bell.
«Weil, ich habe Dad heute morgen wegen Glenda angerufen — und ich war so fertig, ich habe an einem Stück geheult —, tja, und Dad rief zurück und wollte wissen, ob in Glendas Gepäck ein Hefter sei, er hat mich förmlich angefleht, sofort nachzusehen — «
«Und war der Hefter da?«unterbrach ich.
«Du bist genauso schlimm wie Dad. Er war furchtbar aufgeregt. Und wenn du’s wissen willst, sie hat praktisch nur mitgenommen, was in dem Koffer ist, also wirklich nicht viel, aber sie hatte ja auch gerade George umgebracht… Ach herrje. «Unaufhaltsam stiegen ihr Tränen in die Augen.
«Du hast ihn noch nicht mal gemocht«, sagte Kris mürrisch und hielt ihr Papiertaschentücher hin.
Kris mochte Robin Darcy.
«War Robin Darcy nicht in Newmarket?«fragte ich Bell.
«Doch«, sagte sie,»aber er ist wieder zurück nach Florida.«
«Wann?«
«Frag Kris.«
«Dienstag«, sagte Kris und hörte sich gelangweilt an.
«Lange bevor Glenda den Hefter stibitzt hat.«
«Warum macht ihr bloß so ein Trara um einen Hefter?«fragte Bell gereizt.»Man könnte meinen, da seien die Kronjuwelen drin gewesen. Dabei waren es nur Bestellungen, weiter nichts, aber die meisten waren auf deutsch oder in so einer Sprache. «Sie schien nicht zu bemerken, daß mir die Luft wegblieb, und redete munter weiter.»Dad ist praktisch aus der Haut gefahren, aber er kam dann wieder auf den Teppich, als ich ihm sagte, daß der
Hefter zurück nach Newmarket gegangen und in Sicherheit ist.«
Ich atmete tief durch und fragte mehr oder weniger ruhig, wer ihn zurück nach Newmarket geschafft habe.
«So ein Motorradbote«, sagte sie.»Ein Kurier.«
«Und. ehm«, fragte ich,»wem hat er ihn gebracht?«
«Das war ein bißchen merkwürdig«, sagte Bell,»wo sie ihm in Doncaster beim Pferderennen doch fast die Augen ausgekratzt hat.«
«Oliver Quigley?«stieß ich ahnungsvoll, aber entsetzt hervor.
Bell nickte.»Genau. Der Kurier kam heute morgen mit einem großen leeren Umschlag an, und alles war vorausbezahlt, da hat Kris natürlich den Hefter in das Kuvert gesteckt, es zugeklebt und ab die Post. Bis jetzt hab ich gar nicht mehr daran gedacht. Der Kurier kam, ehe wir das mit George erfuhren. Wir wußten noch nicht, daß er tot war. Als wir das hörten, war alles andere wie weggewischt.«
«Ehm…«, fragte ich vorsichtig,»hat Glenda selbst davon gesprochen, daß sie Oliver Quigley einen Hefter schicken wollte?«
«Das war so ziemlich das einzige, womit sie uns nicht in den Ohren gelegen hat, aber doch, sie hat mit Oliver gesprochen, wenn auch nicht lange. Gesprochen ist gut — gefetzt haben die sich —, aber sie sagte uns, wenn der Kurier komme, sollten wir ihm den Hefter mitgeben, und dann ging sie an die frische Luft… und ach herrje, die arme Glenda… Sie ist nicht wiedergekommen…«
Kris verdrehte die Augen zum Himmel und offerierte Papiertaschentücher. Er sagte:»Der Kurier stand bei mir auf der Matte, als wir von dir zurückkamen. Er hätte schon eine Ewigkeit gewartet, sagte er. Seine Laune war nicht die beste, aber wir haben ihm Kaffee und Toast und so was vorgesetzt, und ich habe ihm ein dickes Trinkgeld gegeben, weil er mich erkannt hat, da ist er ganz zufrieden wieder weg.«
«Wir waren froh, etwas für Glenda getan zu haben«, sagte Bell. Sie meinte das ernst, doch Kris verbarg ein Kichern.
«Trink noch was«, sagte ich zu ihm, doch er überließ Bell seine zweite Dose Bier.
Er hockte auf der Fensterbank, lang, hellhäutig und unglaublich klar im Kopf. Seit er in Luton knapp dem Tod entronnen war und Glenda ihm vorgemacht hatte, wie man den Plan zum Selbstmord in die Tat umsetzt, hatte sich der chaotische Teil seines Wesens erstaunlicherweise beruhigt, und so war es Kris, der mich nachdenklich ansah und meinte:»Eins nach dem anderen, Junge, dann finden wir deine Papiere schon. Du erklärst uns, was dich daran interessiert, und ich geb sie Bells Papa, damit er seinen Schwiegersohn ein bißchen schätzen lernt.«
«Die Hochzeit steht also?«fragte ich.
«Im Moment«, bejahte Bell.
«Hefter«, kam Kris sofort auf das Wesentliche zurück.
«Glenda hatte einen in ihrem Koffer, und wegen des Tohuwabohus da vermute ich, sie hatte ihn gestohlen. Wie hört sich das an?«
«Super«, sagte ich.
«Wie steht’s denn dann damit? In dem Koffer waren Sachen, von denen sie wußte, Oliver Quigley würde sie zurückhaben wollen…«Kris schwieg, kratzte sich am Kopf und redete zweifelnd weiter.»Sie haben sich am Telefon beschimpft, bis Glenda nachgab und sich bereit erklärte, Oliver den Hefter per Kurier zurückzuschicken, wenn sie ihn nur in einen Freiumschlag zu stecken brauchte, und den hat er ihr dann auch geschickt, aber der armen Glenda war das inzwischen alles zuviel geworden.«
Bell und Jett nickten, während ich mich fragte, ob Kris wirklich an seine Darstellung der Dinge glaubte oder bewußt versuchte, uns in die Irre zu führen… und ich bedauerte, wie mißtrauisch ich nach gerade mal vier Stunden als nichtamtlicher Schnüffler geworden war.
Gegen neun hatten sich meine drei Besucher unterhaltsameren Zeitvertreiben als der Ausschlagbeschau zugewandt, und gegen zwölf merkte ich, eine wie einsame Beschäftigung das Problemlösen sein konnte, wenn der Erfolg davon abhing, daß niemand von dem bestehenden Problem etwas ahnte.
Ein Hautfleckencheck am Samstagmorgen überzeugte mich davon, daß eine Besserung eingetreten war, wenn auch der Ausschlag jetzt unter einem Dreitagebart juckte. Eine Woche nach Luton hatte ich immer noch blaue Flecke auf dem Brustkorb und spürte meine Rippen schmerzhaft, wenn ich vergaß, mich langsam zu bewegen. Eindeutig gebessert hatte sich nur die Erbrechensquote. Von Jetts fröhlichen Besuchen einmal abgesehen, hatte ich keine besonders tolle Woche hinter mir. Eher einen langen Anschauungsunterricht in der Lebensphilosophie meiner Großmutter: Wenn du’s nicht ändern kannst, denk an was anderes.
Den größten Teil des Samstagmorgens verbrachte ich mit der Unsummen an Krankenhaus-Telefongebühren verschlingenden Suche nach einem Motorradfahrer, der am Donnerstag einen dicken Briefumschlag zu Oliver Quigley nach Newmarket gebracht hatte, doch als ich endlich einen Kurierdienst fand, dem Oliver Quigley wenigstens ein Begriff war, stellte sich heraus, daß dem Kurier jetzt vorgeworfen wurde, er habe die Bestellung nicht ausgeliefert, obwohl der Empfang des Päckchens ordnungsgemäß quittiert worden war.