Als er gegangen war, bat meine Großmutter das diensttuende» liebe Kind«, ihr das Päckchen zu geben, das der
Briefträger gestern morgen für mich gebracht hatte. Dem Poststempel nach kam es aus Miami, und dort hatte ich nur einem Menschen die Adresse meiner Großmutter gegeben.
Unwin mit dem gelbzahnigen Grinsen schickte mir das denkbar schönste Geschenk, denn als ich mich durch Meter von Luftpolsterfolie gewühlt hatte, fand ich eine Frischhaltetüte mit einem Brief daran und meiner altvertrauten, verdreckten kleinen Kamera im Innern. Freudig überrascht las ich die beiliegende Notiz:
Perry,
ich habe einen Schwung Leute nach Trox geflogen. Der Boss war eine Frau. Sie sagt, die Insel gehöre ihr. Sie war zum Kotzen. Aber Ihre Kamera hing da, wo Sie gesagt hatten. Da die Fuhre den ganzen Tag so verdammt unhöflich gewesen war, habe ich von dem Fund nichts erzählt.
Alles Gute Unwin
Ich erklärte den anderen, woher die Kamera kam, steckte sie zufrieden ein und machte mich daran, telefonisch Kris und Bell aufzuspüren. Ergebnis: Bell war heim nach Newmarket gefahren, wo sie und ihr Vater derzeit inoffiziell den Stallbetrieb bei Loricroft leiteten.
«Es ist alles so furchtbar«, sagte Bell, Tränen zurückdrängend.»Oliver Quigley und Dad haben nur diesen blöden Hefter im Kopf, der noch immer nicht aufgetaucht ist. Heute sind sie beide wieder nach Cheltenham gefahren, während ich hier aufpassen darf. Dad ist halb verrückt vor Aufregung und sagt mir nicht, warum.«
«Wo ist Kris?«fragte ich mitfühlend und erfuhr, er sei im Studio, da er bis Mitternacht das Wetter im Rundfunk ansagen müsse; soviel sie wußte, hatte er vor, in seiner Wohnung zu übernachten.
«Geht’s dir besser?«erkundigte sie sich verspätet, und ich dankte ihr und sagte, ich sei als geheilt entlassen worden.
«Was meint er mit Fuhre?«fragte Jett, die Unwins Brief las.
«Die Passagiere«, sagte meine überaus flugerfahrene Großmutter.»Und Perry, wenn wir uns aus dem Takeaway etwas zum Abendbrot geholt haben und du unserer lieben Jett van Els nachher gute Nacht gesagt hast, kannst du ruhig hierbleiben und dich auf dem Sofa einmal richtig ausschlafen. Du brauchst nicht nach Hause. Du siehst viel zu tatterig aus für die vielen steilen Treppen.«
Ich widersetzte mich ihr niemals direkt, wußte aber immer die Bedingungen zurechtzubiegen, so daß sie, als ich sie bat, mir ihren warmen edwardianischen Sherlock-Holmes-Umhang mit den tiefen Taschen auszuleihen, lediglich sagte:»Zieh Handschuhe an!«und:»Komm gesund wieder. «Von bösen Vorahnungen war zu meiner Erleichterung keine Rede.
Müde wie sie selbst küßte ich sie auf die Stirn und ließ mich von Jett zur Paddington Station fahren, Ausgangspunkt für die Züge nach Westen, Tummelplatz manischdepressiver Selbstmordkandidaten (wenn auch nicht Glendas Wahl) und Standort eines guten alten Münzfotokopierers.
Nach einer langen und ergreifenden Gutenachtszene wie aus Romeo und Julia bekannte Jett, noch einmal Ravi Chands ärztliche Meinung eingeholt zu haben, Stand vom Sonntagmorgen.
«Was meint er denn?«
«Noch acht Tage warten.«
Ich hatte schon zu lange gewartet.
«Nach so einem langen Anlauf«, sagte ich,»dürfte unsere Entlobung mindestens fünfzig Jahre dauern.«
Lächelnd, mit glänzenden Augen half sie mir, Veras Laborbefunde zu fotokopieren, und als wir uns zwei kurze Straßen weiter endgültig trennten, hatte ich einen gelbbraunen Hefter mit Vera-Kopien in einer der tiefen Taschen des Umhangs und Veras Originale, von einer Büroklammer zusammengehalten, in der anderen.
Gegen Mitternacht oder kurz danach stand ich bei Kris auf der Matte und wartete wie der Zipalong-Kurier auf die Heimkehr des Wetterpropheten.
Den Schlüssel in der Hand blieb er stehen, überrascht, mich um die Zeit dort zu sehen.
«Ich habe mich ausgesperrt«, sagte ich achselzuckend.
«Kann ich bei dir übernachten?«
Er sah auf seine Uhr.»Okay«, meinte er ohne große Begeisterung, aber er hatte oft genug um Mitternacht bei mir vor der Tür gestanden.
«Komm rein«, sagte er.»Zieh die Joppe aus. Du siehst miserabel aus. Tee oder Kaffee?«
Ich sagte, mir sei zu kalt, um den Mantel abzulegen. Er setzte Wasser auf und klapperte mit den Tassen.
«Was immer du dem Zipalong-Kurier nach Newmarket mitgegeben hast«, sagte ich ein wenig lächelnd,»es war nicht das, was Glenda George gestohlen hat.«
Er machte große Augen.»Woher zum Teufel weißt du das?«
«Nun, wer außer dir hätte dafür sorgen können, daß der
Motorradkurier zur rechten Zeit bei Quigley ankam? Du hast den armen Mann mit Toast gefüttert und ihn sonstwie aufgehalten, bis du sicher warst, daß er erst ankam, wenn Quigley unterwegs nach Cheltenham war.«
«Ich wollte dem alten Hektiker nur einen Streich spielen«, meinte Kris lachend.
Ich nickte.»Er fordert den Spott heraus.«
«Glenda«, sagte Kris,»hat uns den ganzen Donnerstag damit verrückt gemacht, daß sie einen Stoß Unterlagen von George hätte, die bewiesen, daß er ein elender Verräter sei. Wir konnten es nicht mehr hören. Dann rief Oliver an, und er und Glenda haben sich fürchterlich gezankt. Sie hätte da eine Liste von Pferden mitgehen lassen, die in Deutschland laufen sollten, sagte er, und die Liste gehöre ihm, Oliver, und er wolle sie zurückhaben.«
«Aber du hast sie ihm nicht zurückgeschickt«, sagte ich.
«Hm, stimmt. «Er grinste.»Deswegen ist er ganz schön ausgeflippt, der gute Oliver.«
«Was hast du den Kurier denn nach Newmarket bringen lassen?«
«Eine Pferdeliste. Zusammengestellt aus Zeitungsausschnitten. Was sonst?«
«Hast du die Liste gelesen, die du ihm eigentlich schicken solltest?«
«Woher denn?«sagte Kris.»Die ist ganz auf deutsch.«
«Zeig mal«, bat ich ihn.
Er nickte, ging bereitwillig in sein spartanisches Schlafzimmer, öffnete eine Schublade und zog einen gewöhnlichen gelbbraunen Hefter unter seinen Socken hervor. Völlig unbefangen gab er ihn mir, und ein kurzer Blick hinein bestätigte meine Vermutung. Andere Briefe als in dem Hefter auf Trox, aber zu demselben Zweck.
«Bitte sehr«, sagte Kris,»Liebesbriefe, dachte Glenda. Aber es sind wirklich nur Aufstellungen von Pferden. Siehst du das Wort da?«Er zeigte hin.»Das heißt Rennpferde.«
Das deutsche Wort, auf das er zeigte, war Pferderennbahn.
«Fast«, widersprach ich mild;»es heißt Rennbahn.«
«So? Na und?«
«Und, ehm«, sagte ich,»wer hat denn bei Oliver auf den Kurier gewartet, um das Päckchen in Empfang zu nehmen?«
«Rate mal.«
«Wenn ich raten muß… Robin Darcy?«
«Du bist schlauer, als gut für dich ist.«
«Du und Robin seid Freunde, und er hat im Bedford Hotel gewohnt, das, wie ich hörte, keine hundert Meter von Quigleys Stall entfernt ist. Wer käme also eher in Frage? Das war nicht schlau, sondern naheliegend.«
«Na klar… also, das sollte nur ein Streich sein. Wie bist du drauf gekommen?«
«Du hast uns erzählt, Robin sei am Dienstag zurück nach Miami… Zufällig hab ich mit dem Hotel telefoniert, und sie sagten mir, er sei gestern abgereist. Egal. Was hältst du davon, wenn wir die Briefe aus Deutschland fotokopieren? Hier im Bahnhof Paddington geht das im Nu, und wenn du Oliver dann zeigst, daß seine kostbare Liste gerettet ist, sollst du mal sehen, was er für ein Gesicht macht. Kopien anzufertigen empfiehlt sich immer. Wenn Oliver dich wegen des Verlusts der Originale verklagen würde, wäre das katastrophal.«
Kris gähnte, seufzte und stimmte zu.
«Ich tu das für dich, wenn du willst«, sagte ich.
«Es ist wohl besser, wenn ich mitkomme. Los, bringen wir es hinter uns.«
«Gut.«
Ich nahm den Hefter, raffte mehr Kräfte zusammen, als ich zu haben meinte, trat aus Kris’ Schlafzimmer, ging den Flur entlang und zur Haustür hinaus, ohne mich umzudrehen, und summte ein fröhliches Marschlied, als wäre das Ganze ein Spaziergang.