Ich aß, rasierte mich, bewunderte aufrichtig sein Geschick. Ich sah ihm zu, wie er meisterhafte Farbabzüge anfertigte, und ich schrieb ihm Autogramme im Dutzend, da er keine andere Bezahlung annehmen wollte. Er heiße Jason Wells, sagte er. Sprachlos gab ich ihm die Hand und bat um ein Kärtchen mit seiner Adresse.
«Der Laden gehört meinem Onkel«, sagte er.»Irgendwann zieh ich selber einen auf. Darf ich ein Foto von Ihnen machen, damit ich es an die Wand hängen kann?«
Er knipste drauflos, und das genügte ihm offenbar völlig als Lohn für die sechsunddreißig sauberen Negative und die herrlichen Vergrößerungen, die ich schließlich mitnahm.
Kapitel 12
Irgendwie weckten die Schwärmerei und der Respekt, die sich auf Jason Wells’ unfertigem Gesicht spiegelten, zusammen mit seiner professionellen und selbstvergessenen Arbeitsweise in mir wieder das Selbstwertgefühl, das während der fürchterlich kräftezehrenden Krankheit so am Boden gelegen hatte, daß mein an zehntausend Umdrehungen pro Minute gewohnter Verstand Tage und Wochen damit vergeudet hatte, nach Eins waagerecht zu suchen.
Jason Wells fand für sich ein vergammeltes Aussehen vielleicht ganz in Ordnung, aber zu meiner gewohnten Bildschirmpersönlichkeit paßte es nicht. Zeit, daß diese Bildschirmpersönlichkeit das Heft in die Hand nahm, entschied ich.
Der großartige Tweedumhang meiner Großmutter war nicht nur edwardianisch, er war klasse; er hatte Format. Mein glattrasiertes Kinn sah schon viel besser aus. Meine gekämmten Haare fielen ganz von selbst nach ihrer aus dem Fernsehen bekannten Fasson. In einer Drogerie kaufte ich Kosmetika und bei einem Herrenausstatter Hemd, Schlips und Hose, um gebügelt auszusehen. Ich kaufte eine Businesstasche, in die alles reinging, und bei Jason Wells noch Filme, eine neue Kamera und einen Satz Batterien.
Danach brauchte ich mich nur noch gerade hinzustellen, meinen Namen zu nennen, meine Wünsche zu äußern und bitte zu sagen. Auch wenn ich mich dabei noch unangenehm schlapp fühlte. In den zermürbenden letzten Wochen hatte ich vergessen, wie weit mein Arm reichte.
«Ich brauche einen Zug zum Flughafen Heathrow«, sagte ich.
«Selbstverständlich, Dr. Stuart, bitte hier entlang. Der Heathrow Express fährt von hier ohne Zwischenhalt direkt zum Flughafen und ist in fünfzehn Minuten dort.«
«Ich möchte nach Miami fliegen.«
«Selbstverständlich, Dr. Stuart. First class doch sicher?«
«Ich muß diesen Scheck bei meiner Kreditkartenfirma einreichen, damit ich bis zu meiner Rückkehr bei Kasse bin.«
«Selbstverständlich, Dr. Stuart, die Kreditkartenfirma wird umgehend jemanden in die First-class-Lounge schicken, um das zu regeln. Und natürlich brauchen Sie auch ein paar Dollar.«
«Ich würde gern vor dem Abflug duschen.«
«Selbstverständlich, Dr. Stuart. Unsere SonderserviceAbteilung wird sich um alle Ihre Wünsche kümmern.«
«Ich muß meinen Verleger in Kensington anrufen und möchte gern einen Raum für eine geschäftliche Verabredung reservieren.«
«Überhaupt kein Problem, Dr. Stuart. Unser Konferenzzentrum ist in der Executive Club Lounge.«
Verwöhnt in jeder Hinsicht, landete ich unweigerlich vor einem Fernseher. Und natürlich, wie konnte es anders sein, hatte jemand einen Sender eingestellt, der zeigte, welches Wetter auf der anderen Seite des Atlantiks bevorstand.
«In Miami wird’s wohl stürmisch, Dr. Stuart«, sagte man mir fröhlich nickend. Es wurde als selbstverständlich angesehen, daß schlechtes Wetter der Grund für meine Reise war, dabei hatte ich erst durch meinen letzten Anruf beim Wetteramt erfahren, daß in den nächsten fünf Tagen mit Problemen zu rechnen war.
Heathrows aktuellstem und genauestem Wetterbericht konnte ich entnehmen, daß sich in der Karibik so spät in der Saison möglicherweise noch ein schwaches Tief ausbildete. Entwickelte es sich wirklich, würde es als tropischer Sturm Sheila bezeichnet werden.
Nach dem momentanen Luftdruckstand von 1002 Millibar sah es aus, als würde das Ganze verpuffen, aber das war vor gar nicht langer Zeit auch bei Odin so gewesen.
Ein Ansager erklärte gerade, wie die modernen Methoden der Unwettervorhersage Geld sparen und Leben retten halfen. Bereitschaft könne zwar einen Sturm nicht abwenden, aber doch die Auswirkungen lindern. Voraussicht sei von unschätzbarem Wert.
Ein weltmüder Geschäftsmann, Gin-Glas mit Eis in der Hand, beäugte zynisch die echten Errungenschaften der Wetterbeobachtung und meinte gelangweilt:»Sonst was Neues?«
Doppier-Radar war neu, dachte ich, und neue Satelliten waren entwickelt worden, und Computer erstellten 3-D-Modelle… und es gab närrische Hurrikanflieger, die in das Auge des Wirbelsturms vorstießen und dabei fast ertranken. All diese enormen Anstrengungen waren unternommen worden, damit gelangweilte, zynische Geschäftsleute im Trockenen ihren Gin-Tonic trinken konnten.
Der Sonderservice holte mich ab, offerierte Sessel, Eßbares, Zeitungen mit Kreuzworträtseln, Anrufe ins Londoner Stadtgebiet. Ich drückte die Telefonnummer meiner Großmutter und bekam, fast hatte ich es gehofft, Jett an den Apparat, die für eine Woche wieder dort war und erleichtert schien, meine Stimme zu hören.
«Wo bist du gestern abend hin?«fragte sie besorgt.»Kris sagt, er hat dich überall gesucht. Ich habe vor zehn Minuten noch mit ihm telefoniert. Er dachte, du seist vielleicht hier.«
«Und er war bestimmt nicht gut auf mich zu sprechen«, meinte ich bedauernd.
«Ich hätte es dir nicht gesagt, aber es stimmt, er war sehr, sehr verärgert. Wo bist du denn jetzt?«
Ich dachte: Wenn ich durch einen Hurrikan schwimmen kann, finde ich auch einen Weg durchs Labyrinth. Mir dämmerte langsam, wo der Weg hinführte, und ich fühlte mich zu jeder Schandtat bereit und leicht im Kopf.
«Wart auf mich«, sagte ich lächelnd,»laß alle anderen sausen…«
«Sehen wir mal.«
«Bleib mir treu. «Was zum Teufel, dachte ich, hab ich denn jetzt gesagt?
«Solange wir leben? Weißt du, woraus du da zitierst?«
Diesmal antwortete ich ihr voll Überzeugung:»In guten wie in schlechten Tagen.«
«Ehrlich?«fragte sie unsicher.»Oder ist das nur ein Scherz?«
«Montagmorgens macht man keine Witze übers Heiraten. Nein oder ja?«
«Wenn das so ist.ja.«
«Gut! Sag meiner Großmutter, daß es für immer ist… und, ehm… wenn ich das Kreuzworträtsel löse, komme ich im Lauf der Woche zurück.«
«Perry! War das alles? So geht das nicht.«
«Paßt auf euch auf, ihr beiden«, sagte ich und legte den Hörer auf, als sie protestierend» Perry!«sagte, weil sie noch reden wollte.
War es mir ernst damit? überlegte ich wirr. Konnte man wirklich hingehen und montagmorgens einfach so um die Hand einer Frau anhalten? War das eine dumme Laune oder etwas Endgültiges? Solche Launen, die scheinbar aus dem Nichts kamen, sagte ich mir, waren in Wirklichkeit gar keine Launen, sondern bereits getroffene Entscheidungen, die auf eine Gelegenheit warteten, ausgesprochen zu werden.
Während ich einer Morgenphantasie mit Jett nachhing, kamen John Rupert und Geist nach Heathrow, fanden mich im Konferenzzentrum und waren, nach ihren Gesichtern zu urteilen, weder auf die Klasse von Großmutters Umhang gefaßt noch auf die Präsentabilität, Entschlossenheit und neubelebte Willenskraft von Stuart, P.
Ich lächelte. Was glaubten sie denn, wie ich die Karriereleiter emporgestiegen war? Und a propos Leitern, waren mein Verleger und mein Ghostwriter auf dem Weg nach oben oder nach unten?
Am Telefon hatte ich ihnen interessantes Material versprochen, wenn sie zum Terminal 4 kämen, und als sie eintrafen, gab ich ihnen die deutschen Bestellungen und Rechnungen sowie Kopien davon, die ich auf den Apparaten ringsherum frisch angefertigt hatte.