Am anderen Morgen regnete es zwar auf der armen Rosalind Bank, aber der tropische Sturm Sheila ließ, auch wenn er jetzt mit hundert Stundenkilometer schnellen Winden wirbelte, kaum Anzeichen dafür erkennen, daß er sich weiter aufbaute, und zog in nördliche Richtung.
Im Kopf gerechnet, lag der tropische Sturm Sheila etwa tausend Kilometer von Sand Dollar Beach. Behielt Sheila ihren jetzigen Kurs bei (was kaum anzunehmen war), dann würde sie in rund sechzig Stunden, also in zweieinhalb Tagen, am Donnerstagabend gegen neun auf das Haus der Darcys treffen.
Als machte sie es extra, drehte Sheila wieder nach Nordwesten ab, legte Tempo zu und erlangte den Status eines Hurrikans der Kategorie 1.
Ich ging im noch immer ruhigen und blauen Atlantik schwimmen, kaufte mir dann eine dicke Rennsportzeitung für Florida und nutzte viele Stunden des Tages so sinnvoll wie möglich, indem ich aufschlußreiche Listen daraus zusammenstellte. Ich schickte eine Kopie meiner Ausgrabungen per Kurier nach Kensington, dann raffte ich in Ruhe meine Sachen und meine Gedanken zusammen und fand noch Zeit genug für einen Anruf bei Will vom Hurricane Center in Miami (Sheila legte tüchtig zu) und bei Unwin, dem ich für die Kamera danken wollte.
Unwins Antwortdienst teilte mir mit, er sei vorübergehend nicht erreichbar, aber bei meinem dritten Anruf nahm er dann den Hörer ab und meinte nach dem überraschten» Hallo!«und» Guten Tag«, er freue sich zu hören, daß ich dem kleinen Dreckkasten noch Bilder abgerungen hatte.
Ich fragte ihn, wie denn der Tag mit Amy auf Trox genau gewesen sei, und lernte ein paar neue Kraftausdrücke kennen. Nie wieder, sagte Unwin, werde er diese Frau irgendwohin fliegen. Und jawohl, stimmte er zu, sie habe den Tresor geöffnet und wieder geschlossen und niemand anderen da herangelassen.
Er lauschte aufmerksam dem neuen Plan, den ich ihm darlegte, und nachdem er eine Weile durch seine langen gelben Zähne die Luft eingesogen und alles bedacht hatte, sagte er, das ließe sich schon machen, er werde mich zurückrufen.
Eigentlich wollte ich das Hotel längst verlassen haben, als er sich endlich meldete, aber die Wartezeit hatte sich gelohnt. Morgen sei alles unter Dach und Fach. Er habe den Papierkram erledigt.
«Schlafen Sie gut, Perry«, sagte er.
Ich fuhr wieder an denselben Ort wie am Abend vorher, ging zu Robin Darcys Haus und klingelte.
Diesmal öffnete Robin Darcy selbst sofort die Tür, als habe er dort gewartet, und stand regungslos vor mir im Gegenlicht, das seine ganze Gestalt zum Schattenriß formte.
Er sah nicht direkt tödlich aus, aber unbedingt bedrohlich.
Umgekehrt erblickte er frontal beleuchtet vor dunklem Hintergrund einen Mann, der größer, jünger und schlanker war als er und zweifellos bessere Augen hatte, aber nur über einen Bruchteil der Information und Erfahrung verfügte, die er gebraucht hätte.
Darcy bat mich nicht hinein. Er sagte:»Wo sind George Loncrofts Briefe?«
«In Deutschland«, erwiderte ich knapp.
«Zu wessen Nutzen?«
«Wenn Sie das nicht wissen«, sagte ich,»fahre ich nach Hause.«
Eine Stimme mit dem Einschlag von West Berkshire schnarrte plötzlich triumphierend hinter mir:»Sie fahren nirgendwohin, Kumpel. Und das Eisen, das Ihnen da in die Nieren drückt, ist kein Spielzeug, es bläst Löcher in dumme Jungs.«
Ich meinte leichthin zu Robin Darcy:»Haben Sie einen endlosen Vorrat von den Dingern?«und sah hinter den Brillengläsern ein Blitzen, das vielleicht als Warnung gedacht war. Jedenfalls drehte er sich auf dem Absatz um, bedeutete mir mit dem Kopf, ihm zu folgen, und ging in seinen Filzpantoffeln leise über den Marmor der großen Diele ins Wohnzimmer.
Man brauchte mir nicht zu sagen, daß es Michael Fords Schuhe waren, die hinter mir her knarrten, und Amys Sandalen, die wie ein Echo von Glenda Loricrofts Stöckelschuhen neben ihm her klapperten.
«Stehenbleiben und umdrehen«, befahl Michael, und der besorgte Ausdruck, den ich, als ich dem Befehl gehorchte, kurz auf Darcys Gesicht sah, erinnerte mich unangenehm an Alligatoren.
Michael trug knielange khakifarbene Shorts und ein kurzärmeliges weißes Hemd, das seine Hantel stemmermuskeln voll zur Geltung brachte. Die leicht nach außen gebogenen Beine vermittelten wieder den Eindruck, als drückten ihm die muskulösen Schultern arg auf die Knie, und der dicke Nacken legte nahe, daß es eher zwecklos war, sich ihm entgegenzustellen.
Amy, deren feinknochiges Magermilchgesicht befriedigt lächelte, hielt mich offensichtlich für einen Vollidioten, weil ich in einen so plumpen Hinterhalt getappt war. Sie trug hellbraune Hosen und ein weißes Hemd wie Michael und hielt genau wie er eine Pistole in der Hand.
Ich ignorierte das Schießeisen, als wäre es unsichtbar, und sagte freudestrahlend zu ihr:»Tag, Amy, schön, Sie zu sehen! Es ist ja schon richtig lange her, seit ich nach meiner Rettung auf Trox bei Ihnen übernachtet habe.«
Meine Absicht dabei war lediglich, die Atmosphäre ein wenig zu entschärfen, doch Amy legte die Stirn in Falten und wies mich schroff zurecht:»Sie sind nie auf Trox gewesen!«Als hätte sie mich damit nicht schon genug verblüfft, fügte sie hinzu:»Trox gehört mir, und seit Hurrikan Odin hat niemand Anspruch auf irgend etwas, das sich dort befindet. Sie sind, ich wiederhole, nie da gewesen. Sie müssen auf einer anderen Insel geborgen worden sein. Da bringen Sie was durcheinander.«
Michael nickte zustimmend mit wachsamen Augen und sagte:»Alles auf Trox gehört Amy. Wenn Sie da nie gewesen sind, und das sind Sie nun mal nicht, dann können Sie auch keinen Anspruch auf die Insel oder auf irgend etwas, was sich dort befindet, erheben.«
«Kris…«:, setzte ich an.
«Ihr Freund Kris bestätigt, daß auch er nie da gewesen ist.«
Mein Freund Unwin würde wohl etwas anderes erzählen, dachte ich und legte Trox erst mal auf Eis. Die Lage war kritisch. Ich wollte Darcy immer noch allein.
Michael, Amy und Robin Darcy, dachte ich zur Klärung: drei aktive Trader. Dazu kamen mindestens drei weitere
Mittelsleute. Einmal Evelyn, dann der Mann, der am Abend vorher als Bodyguard fungiert hatte, geduldig, loyal und bewaffnet. Der sechste war vielleicht der Pilot der Chartermaschine, in der ich mit verbundenen Augen gesessen hatte.
Sie alle waren immer bewaffnet gewesen, aber Evelyn, die Durchgestylte und Geschmückte mit den starken Ansichten, schien mir die Schießfreudigste zu sein. Sie hatte ich von allen am wenigsten gern im Rücken.
Ich drehte mich im Wohnzimmer zu Michael um und sagte:»Wozu die Artillerie? Was soll das?«
«Deutsche Briefe.«
Ich sagte:»Was für Briefe?«
Nicht einmal Robin Darcy, sah ich, wußte es genau. Hätte Kris ihm nicht von dem Streich erzählt, den er Oliver Quigley spielen wollte, hätten die anderen mit aller Wahrscheinlichkeit gar nicht gewußt, daß die deutschen Briefe existierten.
Mit aller Wahrscheinlichkeit… aber sicher war in dieser chaotischen Welt gar nichts.
Michael sagte:»An wen haben Sie die Briefe verkauft?«
Scheiße, dachte ich.»Was für Briefe?«fragte ich noch einmal.
«Es ist besser für Sie, wenn Sie es ihm sagen«, riet mir Darcy.
Ich dachte nur, daß das Gespräch, wenn man es so nennen konnte, auf vielen Ebenen unbefriedigend verlief. Sie wollten eine Sache, ich eine andere. Jetzt war ich dran: Spring!
Ich sagte zu Amy:»Wie ist denn Ihr Pferd am Samstag in Calder gelaufen?«
Es war, als hätte ich eine Bombe geworfen. Druckwellen liefen sichtbar an Amys Schießarm hinunter, bis das schwarze runde Loch am Ende des Laufs auf den Fußboden statt auf meinen Nabel zielte. Ihre starke Reaktion bewies mir hinreichend, daß auch sie Rennbahnen als Handelsposten benutzte. Die lange Liste, die ich nach Kensington geschickt hatte, enthielt Daten und Orte, für die Amys Besitzerstatus als Tarnung dienen konnte. Ich hatte die Liste als Möglichkeit betrachtet, die zu beweisen war, und ich fand, jetzt hatten John Rupert und Geist einen guten Anhaltspunkt, wo sie suchen mußten.