Nach Vittorias feindseligen Blicken zu urteilen, tat sie es offensichtlich nicht.
Kapitel 15.
Langdon stapfte schweigend hinter Vittoria und Kohler her, während sie zu der Eingangshalle im Hauptgebäude zurückkehrten, wo Langdons bizarrer Besuch seinen Anfang Benommen hatte. Vittoria hielt mühelos mit dem Rollstuhl Schritt. Sie bewegte sich wie eine geübte Schwimmerin. Langdon hörte ihren leisen, kontrollierten Atem, als wollte sie auf diese Weise ihre Trauer abschütteln.
Der Harvardprofessor wollte etwas zu ihr sagen, ihr sein Mitgefühl ausdrücken. Auch er hatte einst die abrupte Leere des Verlusts gespürt, als sein Vater unerwartet gestorben war. Er erinnerte sich an die Beerdigung; es war ein grauer, verregneter Tag gewesen, zwei Tage nach seinem zwölften Geburtstag. Das Haus war voller Menschen in grauen und schwarzen Anzügen und Kostümen, Kollegen aus dem Büro, Verwandte, die ihm die Hand beim Schütteln fast zerquetschten. Alle hatten etwas von Herz und Stress gemurmelt, und seine Mutter hatte durch tränenverhangene Augen gescherzt, dass sie die Aktienkurse immer allein dadurch hätte verfolgen können, dass sie die Hand ihres Mannes gehalten hatte. sein Puls sei ihr eigener privater Wirtschaftsticker gewesen.
Früher, als Langdons Vater noch am Leben gewesen war, hatte Robert einmal gehört, wie seine Mutter zu ihm gesagt hatte, er solle endlich innehalten und sich an den Rosen erfreuen. In jenem Jahr hatte Langdon seinem Vater eine winzige Glasrose zu Weihnachten geschenkt. Es war das Schönste, das er je gesehen hatte. wie sich die Sonne darin spiegelte und einen Regenbogen aus Farben an die Wände geworfen hatte. »Es ist wundervoll«, hatte sein Vater nach dem Auspacken gesagt und Robert auf die Stirn geküsst. »Komm, wir suchen einen sicheren Ort dafür.« Dann hatte sein Vater die
Rose vorsichtig auf ein hohes, staubiges Regal in der dunkelsten Ecke des Wohnzimmers gelegt. Ein paar Tage später hatte Robert einen Stuhl genommen, die Rose vom Regal geholt und in das Geschäft zurückgebracht. Sein Vater hatte nie bemerkt, dass sie verschwunden war.
Der Gong eines Aufzugs riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Vittoria und Kohler waren vor ihm und stiegen in den Lift. Langdon zögerte vor der offenen Tür.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Kohler mehr ungeduldig als besorgt.
»Doch, doch, alles in Ordnung«, antwortete Langdon und setzte einen Fuß in den engen Aufzug. Er benutzte Aufzüge nur, wenn es absolut unumgänglich war. Langdon zog den freien Raum offener Treppenhäuser vor.
»Dr. Vetras Labor liegt unterirdisch«, erklärte Kohler.
Wunderbar, dachte Langdon, als er über die Schwelle trat und den eisigen Lufthauch spürte, der durch den breiten Spalt nach oben zog. Die Tür schloss sich, und der Lift fuhr los.
»Sechs Stockwerke«, sagte Kohler tonlos wie eine analytische Maschine.
Langdon stellte sich die Schwärze des leeren Schachts vor, durch die der Lift nach unten sank. Er versuchte den Gedanken auszusperren, indem er auf das Display und die wechselnden Etagenlichter starrte. Eigenartigerweise blinkten nur zwei: Erdgeschoss und LHC.
»Wofür steht LHC?«, fragte Langdon und bemühte sich, nicht nervös zu klingen.
»Für Large Hadron Collider1 sagte Kohler. »Das ist ein
Teilchenbeschleuniger.«
Ein Teilchenbeschleuniger? Langdon besaß eine vage Vorstellung davon, was das war. Er hatte den Ausdruck zum ersten Mal beim Abendessen mit ein paar Kollegen im Dunster House in Cambridge gehört. Ein befreundeter Physiker, Bob Brownell, war wutentbrannt zum Essen erschienen.
»Die Bastarde haben den Collider gestrichen!«, hatte Brownell geflucht.
»Wen gestrichen?«, hatten alle gefragt.
»Den SSC!«
»SSC?«
»Superconducting Super Collider. Den
Teilchenbeschleuniger!«
Jemand hatte die Schultern gezuckt. »Ich wusste gar nicht, dass Harvard einen baut.«
»Nicht Harvard!«, hatte Brownell geschnaubt. »Die Regierung! Es sollte der stärkste Teilchenbeschleuniger der Welt werden! Eines der wichtigsten wissenschaftlichen Projekte des Jahrhunderts! Zwei Milliarden Dollar wurden bereits hineingesteckt, und dann streicht der Senat das Projekt! Verdammte Bibellobbyisten!«
Schließlich hatte Brownell sich ein wenig beruhigt und erklärt, dass ein Teilchenbeschleuniger eine große, runde Röhre war, in der subatomare Partikel beschleunigt wurden. Starke Magneten rings um die Röhre wurden in rascher Folge ein- und ausgeschaltet und »stießen« die Partikel immer wieder herum, bis sie gewaltige Geschwindigkeiten erreicht hatten. Voll beschleunigte Partikel flogen mit mehr als zweihundertneunzigtausend Kilometern in der Sekunde durch die Röhre.
»Aber das ist ja beinahe Lichtgeschwindigkeit!«, hatte einer der Professoren gerufen.
»Verdammt richtig!«, hatte Brownell gesagt und weiter erklärt, dass man zwei Partikel durch Beschleunigen in entgegengesetzte Richtungen und anschließende kontrollierte Kollision in ihre Bestandteile zerlegen konnte und dass die Wissenschaftler auf diese Weise einen Einblick in die fundamentalsten Bausteine der Natur gewannen. »Teilchenbeschleuniger«, hatte Brownell gesagt, »sind von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Wissenschaft. Teilchenkollisionen sind der Schlüssel zum Verständnis des Universums.«
Der Philosoph der Universität, ein stiller Mann namens Charles Pratt, war nicht sonderlich beeindruckt gewesen. »In meinen Augen sieht das nach einer verdammt steinzeitlichen Methode aus. Als würde man Uhren gegeneinander schlagen, um ihre inneren Bestandteile zu untersuchen.«
Brownell hatte seine Gabel hingeworfen und war aus dem Lokal gestürmt.
Also hat CERN einen Teilchenbeschleuniger, dachte Langdon, wahrend der Lift weiter in die Tiefe glitt. Eine runde Röhre zum Zerlegen von Partikeln. Er fragte sich, warum der Beschleuniger unter der Erde lag.
Der Aufzug hielt, und Langdon war erleichtert, wieder Terfirma unter den Füßen zu spüren. Dann öffneten sich die Türen, und seine Erleichterung verflog. Robert Langdon fand sich einmal mehr in einer völlig fremdartigen Welt wieder.
Ein Gang erstreckte sich vom Aufzug scheinbar endlos in beide Richtungen. Es war ein glatter Tunnel mit Betonwänden, breit genug für einen Sattelschlepper. Hell erleuchtet vor dem Aufzug, wo sie standen, doch ein Stück weiter rechts und links herrschte tiefste Dunkelheit. Ein feuchter Wind schlug Langdon entgegen und erinnerte ihn auf beunruhigende Weise daran, dass er sich nun tief unter der Erde befand. Fast konnte er das Gewicht der Felsen über seinem Kopf spüren. für einen
Augenblick war er wieder neun Jahre alt. Die Dunkelheit versetzte ihn in die Vergangenheit, zurück zu den fünf Stunden erdrückender Schwärze, die ihn bis heute verfolgten. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an.
Vittoria stieg schweigend aus dem Lift und marschierte los, ohne auf die anderen zu warten. An der Decke flackerten Fluoreszenzlampen auf und erhellten ihren Weg. Es sah beängstigend aus. Als wäre der Tunnel lebendig, dachte Langdon; als würde er ihre Bewegungen erahnen. Langdon und Kohler folgten Vittoria in kurzem Abstand. Hinter ihnen erlosch die Beleuchtung ebenso automatisch, wie sie sich eingeschaltet hatte.
»Dieser Teilchenbeschleuniger«, sagte Langdon leise, »ist er irgendwo hier unten?«
»Das dort ist er.« Kohler deutete nach links auf eine polierte Edelstahlröhre, die an der Wand des Tunnels entlang verlief.
Langdon starrte verwirrt auf das Rohr. »Das ist der Beschleuniger?« Er sah ganz anders aus, als er ihn sich vorgestellt hatte. Eine völlig gerade Röhre, knapp einen Meter im Durchmesser, die sich waagerecht durch den gesamten Tunnel erstreckte und vor und hinter ihnen in der Dunkelheit verschwand. Sieht eher wie ein Hightech-Abwasserrohr aus, dachte Langdon. »Ich dachte eigentlich, Teilchenbeschleuniger wären rund.«
1
LHC-Large Hadron Collider = Hadronenbeschleuniger oder Hadronenkollider. Hadronen: Sammelbezeichnung für Elementarteilchen, die der starken Wechselwirkung unterliegen (Baryonen, Mesonen, Protonen, Neutronen) (Anm. d. Übers.).