»Dieser Beschleuniger ist rund«, erwiderte Kohler. »Ein perfekter Ring. Er sieht zwar gerade aus, doch das ist eine optische Täuschung. Der Umfang des Tunnels ist so groß, dass Sie die Krümmung in der Dunkelheit nicht wahrnehmen. So, wie Sie die Erde nicht als Kugel wahrnehmen.«
Langdon war verblüfft. Dieser Tunnel soll ein Ring sein? »Aber. er muss riesig sein!«
»Der LHC ist die größte Maschine der Welt.«
Langdon stutzte. Er erinnerte sich, dass der Pilot und Fahrer irgendetwas von einer riesigen Maschine unter der Erde erzählt hatte, doch.
»Der Ring besitzt einen Durchmesser von mehr als acht Kilometern.«
Langdon riss die Augen auf. »Acht Kilometer?« Er starrte den Generaldirektor an, dann blickte er hinaus in den dunklen Tunnel. »Aber. aber das bedeutet ja, dass er siebenundzwanzig Kilometer lang ist!«
Kohler nickte. »Wie gesagt, ein vollkommener Kreis. Er erstreckt sich unterirdisch bis über die französische Grenze. Voll beschleunigte Partikel rasen in einer einzigen Sekunde mehr als zehntausendmal durch den Ring, bevor sie kollidieren.«
Langdons Beine fühlten sich an wie Gummi, als er in die Dunkelheit starrte. »Wollen Sie damit sagen, dass CERN Millionen Tonnen Erde bewegt hat, nur um winzige Partikel aufeinander zu schießen?«
Kohler zuckte die Schultern. »Manchmal muss man eben Berge versetzen, um die Wahrheit zu finden.«
Kapitel 16.
Hunderte von Meilen von CERN entfernt drang eine Stimme durch das Rauschen eines Walkie-Talkies. »In Ordnung, ich bin jetzt im Korridor.«
Der Wachmann vor den Monitoren drückte den Sendeknopf. »Suchen Sie Kamera Nummer 86. Sie muss irgendwo am anderen Ende sein.«
Eine Weile herrschte Funkstille. Der wartende Wachmann begann zu schwitzen. Schließlich meldete sich das Funkgerät wieder.
»Die Kamera ist nicht hier«, sagte die Stimme. »Ich sehe die Stelle, wo sie montiert war. Irgendjemand muss sie entfernt haben.«
Der Wachmann stieß den Atem aus. »Danke. Warten Sie eine Sekunde, ja?«
Seufzend richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Bank von Monitoren vor sich. Große Bereiche des Komplexes waren für die Öffentlichkeit zugänglich, und es hatte schon früher Fälle von gestohlenen drahtlosen Kameras gegeben. Üblicherweise steckten Scherzbolde dahinter, die auf der Suche nach einem Souvenir waren. Doch sobald eine Kamera aus dem Gebäude verschwand und außer Reichweite war, ging auch ihr Signal verloren, und der Schirm wurde schwarz. Verdutzt starrte der Wachmann auf den Monitor. Kamera Nummer 86 übertrug noch immer ein kristallklares Bild.
Wenn die Kamera gestohlen wurde, fragte er sich, warum erhalten wir dann immer noch ein Signal? Er wusste, dass es dafür nur eine mögliche Erklärung gab. Die Kamera war noch innerhalb des Komplexes. Irgendjemand hatte sie einfach an eine andere Stelle gebracht. Aber wer? Und warum?
Er betrachtete das Bild auf dem Monitor. Schließlich nahm er das Funkgerät wieder auf. »Sind in diesem Treppenhaus irgendwo Schränke? Irgendwelche Kammern oder dunkle Alkoven?«
»Nein.« Die Stimme klang verwirrt. »Wieso?«
Der Wachmann runzelte die Stirn. »Schon gut. Danke für Ihre Hilfe.« Er schaltete das Walkie-Talkie aus und schürzte nachdenklich die Lippen.
Angesichts der geringen Größe und des geringen Gewichts der drahtlosen Kamera konnte sie so gut wie überall innerhalb der schwer bewachten Anlage sein - eine dicht an dicht stehende Ansammlung von zweiunddreißig Einzelgebäuden auf einer kreisförmigen Fläche von anderthalb Kilometern Durchmesser. Der einzige Hinweis war, dass die Kamera an irgendeinem dunklen Ort sein misste. Was natürlich nicht viel weiterhalf. Es gab zahllose dunkle Stellen im Komplex - Spinde und Kammern, Belüftungsschächte, Schränke, ein ganzes Labyrinth aus unterirdischen Tunnels. Es würde Wochen dauern, Kamera Nummer 86 aufzuspüren.
Aber das ist noch das geringste Problem, dachte der Wachmann.
Etwas anderes bereitete ihm sehr viel mehr Kopfzerbrechen, auch wenn es mit Kamera Nummer 86 zusammenhing - und das war das Bild, das sie übertrug. Ein stationäres Objekt, eine kompliziert aussehende Apparatur, wie sie der Wachmann nie zuvor gesehen hatte. Er betrachtete das blinkende elektronische Display an seiner Basis.
Obwohl er eine gründliche Ausbildung absolviert hatte und auf alle nur denkbaren Situationen vorbereitet worden war, spürte er, wie sein Puls schneller ging. Er versuchte sich zu beruhigen. Es musste eine Erklärung gpben. Das Objekt war zu klein, um eine signifikante Bedrohung darzustellen. Andererseits war die bloße Anwesenheit dieses fremden
Gegenstands im Komplex beunruhigend. Genau genommen sogar äußerst beunruhigend.
Ausgerechnet heute, dachte er.
Sicherheit stand für seinen Arbeitgeber stets an oberster Stelle, doch der heutige Tag war wichtiger als jeder andere in den vergangenen zwölf Jahren. Am heutigen Tag war Sicherheit von allergrößter Bedeutung. Der Wachmann starrte lange Zeit auf das fremdartige Objekt und spürte, wie sich in der Ferne ein Sturm zusammenzubrauen begann.
Dann wählte er schwitzend die Nummer seines Vorgesetzten.
Kapitel 17.
Nicht viele Kinder konnten von sich sagen, dass sie sich an den Tag erinnerten, an dem sie ihren Vater kennen gelernt hatten. Anders Vittoria Vetra. Sie war acht Jahre alt gewesen und hatte gewohnt, wo sie immer gewohnt hatte: im Orfanotrofio di Siena, einem katholischen Waisenhaus in der Nähe von Florenz, ausgesetzt von Eltern, die sie niemals gekannt hatte. Es hatte geregnet an jenem Tag. Die Nonnen hatten sie zweimal zum Abendessen gerufen, doch wie stets hatte sie getan, als höre sie nichts. Sie lag draußen im Hof und starrte die Regentropfen an. spürte, wie sie von ihnen getroffen wurde. versuchte zu raten, wo der nächste treffen würde. Die Nonnen riefen erneut und drohten, dass eine Lungenentzündung einem so unerträglich halsstarrigen Kind wie ihr die Neugier auf die Natur schon austreiben würde.
Ich kann nichts hören, hatte Vittoria gedacht.
Sie war durchnässt bis auf die Haut, als ein junger Priester kam, um sie zu holen. Sie kannte ihn nicht; er musste neu sein. Vittoria wartete, bis er sie packte und nach drinnen schleppte.
Doch das geschah nicht. Stattdessen legte er sich zu hrem größten Erstaunen neben sie auf den nassen Boden, direkt in eine Pfütze.
»Man erzählt sich hier, dass du eine Menge Fragen stellst«, sagte der junge Priester.
Vittoria blickte ihn finster an. »Sind Fragen vielleicht Sünde?«
Er lachte. »Schätze, die Leute hatten Recht.«
»Was tun Sie hier?«
»Das Gleiche wie du. ich frage mich, wieso Regentropfen nach unten fallen.«
»Ich frage mich nicht, warum sie fallen! Das weiß ich nämlich!«
Der Priester schenkte ihr einen erstaunten Blick. »Tatsächlich?«
»Schwester Francisca sagt, Regentropfen wären die Tränen von Engeln, die auf die Erde fallen, um die Menschen von ihren Sünden reinzuwaschen.«
»Aha!«, rief er erstaunt. »Das erklärt natürlich einiges!«
»Nein, es erklärt überhaupt nichts!«, giftete sie zurück. »Regentropfen fallen, weil alles fällt! Alles fällt zu Boden! Nicht nur Regentropfen!«
Der Priester kratzte sich verblüfft am Kopf. »Du hast Recht, junge Dame! Alle Dinge fallen! Es muss an der Gravitation liegen.«
»An was?«
Er schaute sie erstaunt an. »Hast du noch nie von Gravitation gehört?«