»Bitte entschuldigen Sie«, antwortete Vittoria. »Sie wissen doch, dass Vater ungestört sein wollte. Er wollte unter allen Umständen verhindern, dass sich ein anderer außer uns beiden
Zutritt verschafft.«
»Schön«, sagte Kohler. »Dann öffnen Sie jetzt bitte die Tür.«
Vittoria zögerte einen langen Augenblick, ohne sich zu regen, Dann atmete sie tief durch und trat zu dem Mechanismus an der Wand.
Langdon war nicht im Geringsten auf das vorbereitet, was als Nächstes geschah.
Vittoria näherte sich dem Mechanismus und legte das rechte Auge auf ein vorstehendes Objektiv, das wie ein Teleskop herausgefahren war. Dann drückte sie auf einen Knopf. Im Innern der Apparatur ertönte ein lautes Klicken. Ein Lichtstrahl wanderte über ihr Auge wie der Abtaster eines Fotokopierers.
»Ein Retina-Scanner«, erklärte sie. »Unfehlbar sicher. Er Lasst nur zwei Muster passieren, meines und das meines Vaters.«
Robert Langdon stand da wie vom Donner gerührt. Entsetzen stieg in ihm auf. Er sah das Bild des toten Leonardo Vetra in allen grässlichen Einzelheiten. Das blutige Gesicht, das einzelne braune Auge, die leere Augenhöhle. Er versuchte, die offensichtliche Wahrheit zu verdrängen, doch dann sah er es. auf den weißen Bodenfliesen, unter dem Retina-Scanner. winzige Tropfen von etwas Rotem. Getrocknetes Blut.
Glücklicherweise schien Vittoria nichts davon zu bemerken.
Die Stahltür glitt auf, und sie trat ein.
Köhler fixierte Langdon mit eisernem Blick. Seine Botschaft war deutlich. Wie ich Ihnen bereits sagte - dieses fehlende Auge diente einem sehr viel höheren Zweck.
Kapitel 18.
Die Hände der Frau waren gefesselt, ihre Handgelenke rot und geschwollen von der Reibung. Der dunkelhäutige Hashishin lag erschöpft neben ihr und bewunderte seine nackte Beute. Er fragte sich, ob ihr Schlaf nur vorgetäuscht war, ein erbärmlicher Versuch, weiteren Forderungen von seiner Seite zu entgehen.
Es war ihm egal. Er hatte genug. Gesättigt richtete er sich auf.
In seiner Heimat waren Frauen Besitz. Schwach. Werkzeuge zum Vergnügen, Leibeigene, die gehandelt wurden wie Vieh. Und sie wussten, wo ihr Platz war. Hier in Europa täuschten die Frauen eine Stärke und Unabhängigkeit vor, die ihn zugleich erheiterte und erregte. Sie physisch zu unterjochen war ein Vergnügen, das er stets aufs Neue genoss.
Trotz der Zufriedenheit in den Lenden spürte der Hashishin, wie neuer Appetit in ihm wuchs. Er hatte in der vergangenen Nacht getötet, getötet und verstümmelt, und das Töten war für ihn wie Heroin. jede Befriedigung war immer nur von kurzer Dauer, und jedes Mal war die Gier umso größer. Das Hochgefühl hatte sich verflüchtigt. Das Verlangen kehrte zurück.
Er betrachtete die schlafende Frau neben sich. Er fuhr mit der Hand über ihren Hals und spürte die Erregung des Gefühls, sie in einem einzigen Augenblick töten zu können. Was spielte es für eine Rolle? Sie war ein Niemand, ein Ding, das zum Dienen und zum Vergnügen da war, weiter nichts. Seine starken Finger umfassten ihre Kehle, und er spürte ihren schwachen Puls. Doch er kämpfte gegen das Verlangen an und zog die Hand zurück. Arbeit wartete auf ihn. Arbeit für eine höhere Sache als sein persönliches Vergnügen.
Während er aus dem Bett stieg, wurde ihm einmal mehr
bewusst, welch große Ehre der vor ihm liegende Auftrag bedeutete. Er hatte noch immer keine Vorstellung vom Einfluss dieses Mannes namens Janus und der alten Bruderschaft, die er huldigte. Wunderbarerweise hatten sie ihn auserwählt. Irgendwie mussten sie von seinem Abscheu erfahren haben. und von seiner Geschicklichkeit. Wie, würde er nie herausfinden. Ihre Wurzeln reichen weit...
Und nun hatten sie ihm die höchste aller Ehren zuteil werden lassen. Er würde ihre Hand und ihre Stimme sein. Ihr Assassine und ihr Bote. Er würde derjenige sein, den sein Volk Malak alhaq nannte - der Engel der Wahrheit.
Kapitel 19.
Vetras Labor war - mit einem Wort beschrieben futuristisch.
Weiße Wände, weißer Boden, weiße Decke, Computer, wohin das Auge sah, sowie spezielle elektronische Apparaturen; es erinnerte an einen hochmodernen Operationssaal. Langdon fragte sich, welche Geheimnisse es in diesem Labor geben mochte, die es rechtfertigten, einem Menschen ein Auge herauszuschneiden, um sich Zutritt zu verschaffen.
Kohler wirkte nervös, als sie eintraten. Seine Blicke wanderten hierhin und dorthin und suchten nach Anzeichen eines Eindringlings. Doch das Labor war leer. Vittoria bewegte sich ebenfalls langsam. als wäre das Labor ein völlig unbekannter Raum, wenn ihr Vater sich nicht hier aufhielt.
Langdons Blick blieb in der Mitte des Labors hängen, wo eine Reihe kleiner Säulen stand. Es sah aus wie ein MiniaturStonehenge; ein Dutzend der vielleicht einen Meter hohen Gebilde aus poliertem Edelstahl war in einem Kreis angeordnet. Auf jeder Säule stand ein transparenter Behälter von der Größe einer Tennisballdose. Die Behälter schienen leer zu sein.
Kohler betrachtete die Behälter verwirrt; dann beschloss er offenbar, sie für den Augenblick zu ignorieren. Er wandte sich zu Vittoria um. »Wurde irgendetwas gestohlen?«, fragte er.
»Gestohlen? Wie denn?«, entgegnete sie. »Der RetinaScanner lässt niemanden hinein außer uns!«
»Sehen Sie sich einfach nur um.«
Vittoria seufzte und untersuchte den Raum einige Minuten lang. Dann zuckte sie die Schultern. »Alles sieht so aus wie immer. Geordnetes Chaos.«
Langdon spürte, wie Kohler zögerte. Wahrscheinlich fragte er sich, wie weit er gehen konnte. wie viel er Vittoria sagen
durfte. Offensichtlich entschied er sich, es für den Augenblick zu lassen. Er lenkte seinen Rollstuhl zur Mitte des Labors und betrachtete die mysteriöse Anordnung scheinbar leerer Behälter auf den Säulen.
»Geheimnisse sind ein Luxus«, sagte er schließlich, »den wir uns nicht mehr länger leisten können.«
Vittoria nickte ergeben. Sie wirkte mit einem Mal mitgenommen, als wäre hier im Labor eine Flut von Erinnerungen auf sie eingestürzt.
Lass ihr einen Augenblick Zeit, dachte Langdon.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch, als müsste sie sich innerlich auf das vorbereiten, was zu enthüllen sie im Begriff stand. Atmete erneut. Und noch einmal. Und noch einmal.
Langdon beobachtete sie, und in ihm regte sich Besorgnis. Ist alles in Ordnung mit ihr? Er warf einen Blick zu Kohler, der ungerührt schien - offenbar hatte er dieses Ritual schon häufiger beobachtet. Zehn Sekunden vergingen, bevor Vittoria die Augen wieder aufschlug.
Die Verwandlung war unglaublich. Vittoria Vetra war ein anderer Mensch. Ihre vollen Lippen schlaff, die Schultern hängend, die Augen weich und nachgiebig. Es war, als hätte sie jeden Muskel in ihrem Körper dazu gebracht, die Situation hinzunehmen. Das Feuer und der persönliche Schmerz waren irgendwie unter einer Oberfläche aus Gelassenheit verschwunden.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte sie mit nüchterner Stimme.
»Am besten ganz am Anfang«, entgegnete Kohler. »Berichten Sie uns von den Experimenten Ihres Vaters.«
»Sein Lebenstraum war, Religion und Wissenschaft zu vereinen«, sagte sie. »Er hoffte beweisen zu können, dass Religion und Wissenschaft zwei durchaus miteinander vereinbare Dinge seien - zwei verschiedene Wege zu ein und derselben Wahrheit.« Sie zögerte, als glaubte sie selbst nicht an das, was als Nächstes kam. »Und vor kurzem. fand er einen Weg dorthin.«
Kohler schwieg.
»Er entwickelte ein Experiment, von dem er hoffte, dass es einen der erbittertsten Konflikte in der Geschichte von Wissenschaft und Religion beenden könnte.«