»Die Proben berühren die Wände nicht«, sagte Vittoria, die offensichtlich mit Kohlers Einwand gerechnet hatte. »Die Antimaterie befindet sich in einem Schwebezustand. Die Behälter sind>Antimateriefallen<, denn sie halten die Antimaterie buchstäblich in der Mitte des Behälters gefangen, in sicherem Ab stand von den Seitenwänden und vom Boden.«
»Schwebezustand? Aber. wie?«
»Zwischen zwei sich überschneidenden Magnetfeldern. Hier, sehen Sie.«
Vittoria ging durch den Raum und holte einen großen elektronischen Apparat. Das Gerät erinnerte Langdon an eine Strahlenkanone aus einem Comic - ein weites, waffenähnliches Rohr mit einem Zielfernrohr auf der Oberseite und einem Gewirr elektronischer Armaturen darunter. Vittoria richtete das Rohr mithilfe der Zieloptik auf einen der Behälter aus, spähte durch das Rohr und drehte an ein paar Knöpfen. Dann trat sie zurück und ließ Kohler an das Okular.
Für einen kurzen Moment verschlug es ihm die Sprache.
»Sie haben sichtbare Mengen gesammelt?«
»Fünfhundert Nanogramm«, antwortete Vittoria. »Ein flüssiges Plasma aus Millionen Antielektronen, aus Positronen.«
»Millionen? Aber. niemand hat bis heute mehr als ein paar Partikel entdeckt. nirgendwo auf der Welt!«
»Xenon«, sagte Vittoria unbeeindruckt. »Vater hat den Partikelstrahl durch einen Xenon-Jet hindurch beschleunigt und auf diese Weise die Elektronen weggerissen. Der exakte Vorgang war sein Geheimnis, doch er injizierte simultan nackte Elektronen in den Beschleuniger.«
Langdon begriff überhaupt nichts mehr. Er fragte sich, ob die beiden Wissenschaftler überhaupt noch in seiner Sprache diskutierten.
Kohler zögerte. Die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer, während er nachdachte. Plötzlich atmete er hörbar durch; dann sank er wie von einer Kugel getroffen in sich zusammen.
»Rein technisch betrachtet würde das bedeuten.«
»Genau.« Vittoria nickte. »Ziemlich große Mengen.«
Kohler wandte den Blick erneut auf den Behälter vor sich. Verunsichert richtete er sich in seinem Rollstuhl auf und schaute durch das Okular. Lange Zeit sagte er kein Wort, doch als er sich schließlich zurücklehnte, standen dicke Schweißperlen auf seiner Stirn. Die Falten auf seinem Gesicht waren verschwunden. Seine Stimme war ein heiseres Flüstern. »Mein Gott, Vittoria. Sie haben es tatsächlich geschafft!«
Vittoria nickte. »Mein Vater hat es geschafft.«
»Ich. ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll.«
Vittoria wandte sich zu Langdon um. »Möchten Sie auch einen Blick darauf werfen?« Sie deutete auf das elektronische Gerät.
Ohne zu wissen, was ihn erwartete, trat Langdon vor. Aus einer Entfernung von wenig mehr als einem halben Meter schien der Behälter leer. Was immer sich darin befand, es war unendlich klein. Langdon blickte durch das Okular. Es dauerte einen Augenblick, bevor das Bild scharf wurde.
Dann sah er es.
Das Objekt befand sich nicht am Boden des Behälters, wie er es erwartet hätte, sondern es schwebte tatsächlich in der Mitte, eine schimmernde Kugel aus einer quecksilberähnlichen Flüssigkeit, wie von Magie gehalten. Metallische Wellen zogen über die Oberfläche des Gebildes, das Langdon an ein Video über einen Wassertropfen in Schwerelosigkeit erinnerte. Obwohl er wusste, dass der Tropfen mikroskopisch klein war, erkannte er jede Einzelheit, jede Welle, jedes Schwanken des schwebenden Plasmaballs.
»Es. schwebt«, flüsterte er.
»Das ist auch besser so, glauben Sie mir«, erwiderte Vittoria. »Antimaterie ist extrem instabil. Energetisch gesprochen ist sie das genaue Gegenteil von Materie. Beide löschen sich augenblicklich gegenseitig aus, wenn sie miteinander in Berührung kommen. Antimaterie am Kontakt mit Materie zu hindern, ist eine große technologische Herausforderung, weil einfach alles auf der Erde aus Materie besteht. Die Proben müssen gelagert werden, ohne irgendetwas zu berühren, nicht einmal Luft.«
Langdon wusste nicht, was er sagen sollte. Also in einem Vakuum.
»Diese Antimateriefallen«, unterbrach Kohler, während er mit einem Finger über eine der Säulen aus Edelstahl strich wie ein staunender kleiner Junge. »Hat Ihr Vater sie entworfen?«
»Offen gestanden, sie sind meine Entwicklung.«
Kohler blickte auf.
»Mein Vater stellte die ersten Antimateriepartikel her«, fuhr Vittoria bescheiden fort, »doch er wusste nicht, wie er sie lagern sollte. Ich schlug Magnetfelder vor. Luftdichte Hüllen aus Nano-Verbundstoffen mit entgegengesetzten Elektromagneten an jedem Ende.«
»Mir scheint, das Genie Ihres Vaters hat abgefärbt.«
»Nicht wirklich. Ich habe die Idee aus der Natur entliehen. Portugiesische Galeeren fangen Fische zwischen ihren Tentakeln mithilfe von Nesseln, die sie aus allen Richtungen auf die Fische abschießen. Das gleiche Prinzip kommt hier zur Anwendung. Jeder Behälter ist mit zwei Elektromagneten ausgerüstet, einer oben, einer unten. Die entgegengesetzten Magnetfelder überschneiden sich in der Mitte des Behälters und halten die Antimaterie dort fest, mitten im Vakuum.«
Langdon blickte erneut auf den Behälter. Antimaterie, die schwerelos in einem Vakuum schwebte, ohne irgendetwas zu berühren. Kohler hatte Recht. Es war eine geniale Konstruktion.
»Wo befindet sich die Energiequelle für die Magneten?«, fragte Kohler.
Vittoria deutete auf die Edelstahlsäulen. »Dort drin. Die Behälter werden in einen speziellen Adapter gesteckt, der sie kontinuierlich lädt, sodass die Magneten niemals ausfallen können.«
»Und wenn das Feld zusammenbricht?«
»Das ist doch offensichtlich. Die Antimaterie fällt auf den Boden des Behälters, und wir beobachten eine Annihilation.«
»Annihilation?«, warf Langdon ein. Der Klang des Wortes gefiel ihm nicht.
Vittoria wirkte unbeeindruckt. »Ja. Wenn Antimaterie und Materie miteinander in Berührung kommen, werden beide augenblicklich zerstört. Physiker nennen diesen Vorgang Annihilation.«
»Oh.« Langdon nickte.
»Es ist die einfachste Reaktion im gesamten Universum. Wenn ein Partikel Materie und ein Partikel Antimaterie zusammentreffen, kommt es zur vollständigen Zerstrahlung, und dabei entstehen zwei neue Partikel, die wir Photonen nennen. Ein Photon ist sozusagen ein winziges Wölkchen Licht.«
Langdon hatte von Photonen gelesen - Lichtpartikeln -, der reinsten Form von Energie. Er beschloss, lieber nicht nach Captain Kirk und den Photonentorpedos zu fragen, die die Enterprise gegen Klingonen einsetzte. »Also sehen wir einen winzigen Lichtblitz, wenn die Antimaterie zu Boden fällt?«
Vittoria zuckte die Schultern. »Kommt darauf an, was Sie unter>winzig<verstehen. Ich werde es Ihnen zeigen.« Sie griff nach dem Behälter und begann, ihn aus seinem Adapter zu schrauben.
Kohler stieß einen entsetzten Schrei aus und sprang vor, um ihre Hände wegzuschlagen. »Vittoria! Sind Sie wahnsinnig?«
Kapitel 22.
Kohler hatte sich aus dem Rollstuhl erhoben und stand unsicher schwankend auf zwei verkrüppelten Beinen. Sein Gesicht war weiß vor Angst. »Vittoria! Sie dürfen diese Falle nicht entfernen!«
Langdon beobachtete verständnislos das Geschehen. Er begriff die plötzliche Panik des Direktors nicht.
»Fünfhundert Nanogramm!«, rief Kohler. »Wenn das magnetische Feld zusammenbricht.«
»Herr Direktor, es ist absolut sicher«, beruhigte ihn Vittoria. »Jede Antimateriefalle ist mit einer Sicherung ausgerüstet -einer Batterie für den Fall, dass die Stromversorgung zusammenbricht oder die Falle aus ihrer Halterung genommen wird. Die Probe bleibt in ihrem Magnetfeld gefangen, selbst wenn ich den Behälter herausnehme.«
Kohler blickte sie unsicher an. Dann sank er zögernd in seinen Rollstuhl zurück.