Der Aufzug hielt.
Die Türen glitten auf, und Vittoria führte sie durch einen schwach beleuchteten Gang. Ein Stück voraus endete er vor einer massiven Stahltür. HAZMAT. Der Retina-Scanner neben der Tür war identisch mit dem Gerät vor dem Labor oben. Sie näherte sich und brachte ihr Auge vorsichtig vor die Linse.
Und wich zurück. Irgendetwas stimmte nicht. Die für gewöhnlich makellos saubere Linse war verschmiert mit. mit etwas, das aussah wie. Blut? Verwirrt wandte sie sich zu den beiden Männern um, doch ihr Blick begegnete wachsbleichen Gesichtern. Kohler und Langdon starrten fassungslos auf etwas am Boden, zu Vittorias Füßen.
Vittoria folgte ihren Blicken.
»Nein!«, rief Langdon und streckte die Hand nach ihr aus. Doch es war zu spät.
Vittoria hatte den Gegenstand am Boden bereits entdeckt. Er war zugleich unglaublich fremdartig und vollkommen vertraut.
Es dauerte nur einen Augenblick.
Dann, mit plötzlichem Entsetzen, wusste sie Bescheid. Es war ein Augapfel, weggeworfen wie ein Stück Abfall. Sie hätte den Braunton dieser Iris überall erkannt.
Kapitel 24.
Der junge Wachmann hielt den Atem an, als sein Vorgesetzter sich über seine Schulter beugte und die lange Reihe von Überwachungsbildschirmen studierte. Eine Minute verging
Das Schweigen des Offiziers war zu erwarten gewesen, sagte sich der Wachmann. Der Kommandant war ein Mann, der sich in jeder Lage im Griff hatte. Er war nicht zum Chef eines der elitärsten Sicherheitsapparate der Welt geworden, indem er zuerst sprach und dann dachte.
Aber was denkt er?
Das Objekt auf dem Schirm war eine Art Behälter - ein Kanister mit Transportgriffen. So viel schien offensichtlich. Der Rest war es, der beiden Kopfzerbrechen bereitete.
Im Innern des Behälters schwebte, wie durch Magie gehalten, ein kleiner Tropfen einer metallischen Flüssigkeit mitten in der Luft. Der Tropfen erschien und verschwand im Gleichtakt zu dem Blinken eines roten LED-Displays, auf dem ein unerbittlicher Countdown ablief, der dem Wachmann eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagte.
»Können Sie den Kontrast verstärken?«, fragte der Kommandant, und der Wachmann zuckte zusammen.
Er kam der Bitte nach, und das Bild wurde ein wenig heller. Der Kommandant beugte sich erneut vor und starrte aus verkniffenen Augen auf etwas, das soeben unten an der Basis des Behälters sichtbar geworden war.
Der Wachmann folgte dem Blick des Kommandanten. Neben dem leuchtenden Display war ein Akronym zu erkennen, ganz schwach. Vier Großbuchstaben, die im pulsierenden An-Aus glänzten.
»Bleiben Sie hier«, befahl der Kommandant. »Sagen Sie zu
niemandem ein Wort. Ich werde mich persönlich darum kümmern.«
Kapitel 25.
HAZMAT. Fünfzig Meter unter der Erde. Vittoria Vetra stolperte vorwärts; beinahe wäre sie auf den Scanner gefallen. Sie spürte, dass der Amerikaner herbeistürzte, um ihr zu helfen, sie zu halten, ihr Gewicht aufzufangen. Auf dem Boden zu ihren Füßen lag der Augapfel ihres Vaters und starrte sie blicklos an. Sie spürte, wie die Luft aus ihren Lungen entwich. Sie haben ihm das Auge herausgeschnitten! Ihre Welt begann sich zu drehen. Kohler war dicht hinter ihnen und sagte irgendetwas. Langdon führte sie. Wie in einem Traum fand sie sich vor dem Scanner wieder. Ein Summen ertönte.
Die Tür glitt auf.
Trotz des Entsetzens, das sich wie ein eisiger Speer in ihre Seele gebohrt hatte, trotz des leblosen Auges ihres Vaters spürte sie irgendwie, dass hinter der Tür weiterer Schrecken wartete. Sie richtete den Blick in das Labor und fand ihre schlimmsten Ahnungen bestätigt. Der einzelne Sockel, der Lademechanismus für die Antimateriefalle, war leer.
Der Behälter war verschwunden. Sie hatten ihrem Vater das Auge herausgeschnitten, um ihn zu stehlen! Die Schlussfolgerungen stürzten zu schnell auf sie ein, als dass sie ihre volle Tragweite begriffen hätte. Alles war nach hinten losgegangen, Die Probe, die beweisen sollte, dass Antimaterie eine sichere und realisierbare Energiequelle war. jemand hatte sie gestohlen. Aber... niemand hat gewusst, dass diese Probe überhaupt existiert! Doch es war eine unbestreitbare Tatsache -irgendjemand hatte es herausgefunden. Vittoria wusste nicht, wie und wo, ganz zu schweigen, wer. Selbst Kohler, von dem gesagt wurde, dass er alles wusste, was in CERN vorging, hatte ganz offensichtlich nichts vom Projekt ihres Vaters geahnt.
Ihr Vater war tot. Ermordet wegen seiner Genialität.
Während die Trauer ihr Herz zu überfluten drohte, stieg ein Gedanke in ihr auf. Ein schrecklicher Gedanke. Niederschmetternd. Durchbohrend. Schuldgefühle.
Unkontrollierbar, erbarmungslos. Vittoria selbst war es gewesen, die ihren Vater überredet hatte, die große Probe herzustellen. Gegen sein Gewissen. Und nun war er dafür ermordet worden.
Ein viertel Gramm...
Wie jede andere Technologie auch - Feuer, Schießpulver, der Verbrennungsmotor - war Antimaterie in den falschen Händen tödlich. Extrem tödlich. Antimaterie war eine tödliche Waffe, machtvoll und unaufhaltsam. Nachdem der Behälter von seiner Ladestation entfernt worden war, würde sich die Batterie entladen. Der Countdown hatte begonnen. Ein Zug, der führerlos dahinraste.
Und wenn die Zeit abgelaufen war.
Ein blendendes Licht, hell wie die Sonne. Brüllender Donner. Spontane Annihilation. Eine Sekunde später - ein leerer Krater. Ein gewaltiger leerer Krater.
Die Vorstellung, dass der stille Genius ihres Vaters als Werkzeug der Zerstörung eingesetzt werden sollte, war wie Gift in ihrem Blut. Antimaterie war die ultimative Waffe für Terroristen. Sie besaß keine metallischen Teile, die von Detektoren aufgespürt werden konnten, keine chemischen Signaturen, die von Hunden aufgespürt werden konnten, keinen Zünder, den man deaktivieren konnte. falls die Polizei den Behälter überhaupt fand. Der Countdown hatte begonnen.
Langdon wusste nicht, was er sonst tun sollte, daher nahm er sein Taschentuch und legte es über Leonardo Vetras Augapfel am Boden. Vittoria stand im Eingang des ausgeraubten HAZMAT-Labors, und auf ihrem Gesicht zeigten sich überwältigende Trauer und aufkeimende Panik. Langdon näherte sich ihr, um sie zu trösten, doch Kohler kam ihm zuvor.
»Mr. Langdon?« Kohlers Gesicht war völlig ausdruckslos. Er bedeutete Langdon, ihm außer Hörweite zu folgen. Langdon gehorchte zögerlich und ließ Vittoria allein zurück. »Sie sind der Spezialist«, flüsterte Kohler eindringlich. »Ich möchte von Ihnen wissen, was diese Illuminati-Bastarde mit der Antimaterie vorhaben.«
Langdon versuchte sich zu konzentrieren. Trotz des Irrsinns um ihn herum war seine erste Reaktion streng logisch. Akademische Zurückweisung. Kohler ging noch immer von haltlosen Annahmen aus. Unmöglichen Annahmen. »Die Illuminati existieren nicht mehr, Mr. Kohler. Ich stehe nach wie vor dazu. Dieses Verbrechen könnte von wem auch immer begangen worden sein - vielleicht war es sogar ein anderer Mitarbeiter von CERN, der etwas von Mr. Vetras wissenschaftlichem Durchbruch erfahren hat und der Meinung war, dass dieses Projekt zu gefährlich sei, um fortgesetzt zu werden.«
Kohler blickte ihn wie betäubt an. »Sie meinen, dieses Verbrechen wurde aus Gewissensgründen begangen, Mr. Langdon? Das ist absurd! Wer auch immer Leonardo Vetra ermordet hat, er tat es nur aus einem einzigen Grund - er wollte die Antimaterie. Und er hat ohne Zweifel etwas ganz Bestimmtes damit vor.«
»Sie meinen Terroristen.«
»Offen gestanden - ja.«
»Aber die Illuminati waren niemals Terroristen.«
»Sagen Sie das Leonardo Vetra.«