Langdon spürte einen Stich. In Kohlers Worten lag Wahrheit. Leonardo Vetra war in der Tat mit dem Zeichen der Illuminati gebrandmarkt worden. Woher war es gekommen? Das geheime Zeichen erschien Langdon als ein viel zu aufwändiger Trick, als dass jemand mit seiner Hilfe versucht haben könnte, seine Spuren zu verwischen und den Verdacht auf andere zu lenken.
Es musste eine bessere Erklärung geben.
Erneut zwang er sich, das Unlogische zu bedenken. Falls die Illuminati tatsächlich noch immer aktiv sind, und falls sie tatsächlich die Antimaterie gestohlen haben - welche Absicht steckt dahinter? Was wäre ihr Ziel?
Die Antwort kam augenblicklich. Langdon verwarf sie genauso schnell.
Zugegeben, die Illuminati hatten einen Erzfeind - doch ein terroristischer Angriff dieser Tragweite gegen den Feind war unvorstellbar. Er war überhaupt nicht typisch. Sicher, die Illuminati hatten Menschen umgebracht, doch es waren stets nur Individuen gewesen, sorgfältig ausgewählte Ziele. Massenvernichtung erschien irgendwie zu plump. Langdon zögerte.
Andererseits, dachte er, steckt eine majestätische Eloquenz dahinter. Antimaterie, die ultimative wissenschaftliche Errungenschaft, um den uralten Feind zu verdampfen...
Er weigerte sich, den ungeheuerlichen Gedanken zu akzeptieren. »Es gibt«, sagte er plötzlich, »eine andere logische Erklärung außer Terrorismus.«
Kohler starrte ihn an. Er wartete.
Langdon versuchte seine Gedanken zu ordnen. Die Illuminati hatten stets gewaltige finanzielle Macht besessen. Damit hatten sie ihren Einfluss ausgeübt. Sie hatten Banken kontrolliert. Sie hatten Gold gehortet. Die Gerüchte besagten, dass sie den größten und wertvollsten Diamanten besaßen, den es je gegeben hatte - den Illuminati-Diamanten, einen riesigen, makellosen Stein. »Geld«, sagte Langdon schließlich. »Möglicherweise hat jemand die Antimaterie gestohlen, um einen finanziellen Vorteil daraus zu schlagen.«
Kohler starrte ihn ungläubig an. »Einen finanziellen Vorteil? Wo um alles in der Welt verkauft man einen Tropfen Antimaterie?« »Nicht die Antimaterie«, entgegnete Langdon. »Die Technologie. Antimaterie-Technologie muss ein Vermögen wert sein. Vielleicht hat jemand die Probe gestohlen, um sie zu analysieren und seine eigenen Forschungen anzustellen?«
»Industriespionage? Aber dieser Behälter hat nur vierundzwanzig Stunden, bevor die Batterie leer ist! Die Forscher würden sich selbst umbringen, bevor sie irgendetwas herausgefunden hätten!«
»Sie könnten die Batterien nachladen, bevor sie leer sind. Sie könnten eine ähnliche Ladestation bauen wie diese hier in den beiden Labors von CERN.«
»In vierundzwanzig Stunden?«, spottete Kohler. »Selbst wenn sie die Pläne gleich mitgestohlen hätten, würden sie Monate dafür benötigen! Ganz bestimmt jedenfalls nicht nur ein paar Stunden!«
»Er hat Recht.« Vittorias Stimme klang brüchig.
Beide Männer wandten sich zu ihr um. Vittoria kam ihnen entgegen. Ihr Gang war so unsicher wie ihre Stimme.
»Er hat Recht«, wiederholte sie. »Niemand könnte rechtzeitig eine neue Ladestation bauen. Allein das Interface braucht Wochen. Fluxfilter, Servospulen, Gleichrichter, alles
genauestens kalibriert auf die spezifische Energie ihrer Position.«
Langdon runzelte die Stirn. Er hatte begriffen. Eine Antimateriefalle war nichts, das irgendjemand einfach
mitnehmen und woanders in eine Steckdose stecken konnte. Wenn der Behälter aus CERN gestohlen worden war, dann befand er sich auf einem vierundzwanzig Stunden währenden Trip ins Nichts.
Was nur eine einzige, äußerst beunruhigende
Schlussfolgerung übrig ließ.
»Wir müssen Interpol informieren!«, sagte Vittoria. Ihre
Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren fremd. »Wir müssen die Behörden benachrichtigen! Auf der Stelle.«
Kohler schüttelte den Kopf. »Nein, auf keinen Fall.«
Die Worte verblüfften sie. »Nein? Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie und Ihr Vater haben mich in eine sehr schwierige Lage gebracht.«
»Herr Direktor, wir brauchen Hilfe! Wir müssen den Behälter finden und hierher zurückschaffen, bevor irgendjemand zu Schaden kommt! Wir haben eine Verpflichtung!«
»Wir haben die Verpflichtung zu denken!«, entgegnete Kohler hart. »Diese Situation könnte sehr, sehr ernste Folgen für CERN haben.«
»Sie machen sich Sorgen wegen CERNs Ruf? Wissen Sie eigentlich, was geschieht, wenn die Batterie in einem Wohngebiet leer wird? Die Antimaterie hat einen Explosionsradius von fast einem Kilometer! Neun dicht bewohnte Blocks!«
»Darüber hätten Sie und Ihr Vater nachdenken sollen, bevor Sie eine so große Probe erschaffen haben.«
Vittoria fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Dolch in den Rücken gerammt. »Aber. wir haben jede nur denkbare Vorsichtsmaßnahme ergriffen!«
»Offensichtlich nicht.«
»Niemand wusste von der Antimaterie! Niemand!« Dann erkannte sie, wie absurd ihre Behauptung war. Selbstverständlich hatte jemand davon gewusst. Irgendjemand hatte es herausgefunden.
Vittoria hatte mit niemandem gesprochen. Damit blieben nur zwei Erklärungen. Entweder, ihr Vater hatte jemanden ins Vertrauen gezogen, ohne es ihr zu sagen - was keinen Sinn ergab, weil es ihr Vater gewesen war, der darauf bestanden hatte, dass es unter allen Umständen ihrer beider Geheimnis bleiben müsse. Oder sie oder ihr Vater waren überwacht worden. Das Mobiltelefon vielleicht? Sie hatten ein paar Mal telefoniert, während Vittoria zu Feldversuchen unterwegs gewesen war. Hatten sie zu viel gesagt? Möglich war es. Außerdem hatten sie Kontakt per E-Mail gehabt. Doch auch dort waren sie diskret gewesen - oder nicht? Das Sicherheitssystem von CERN? Hatte man sie überwacht, ohne dass sie es gewusst hatten? Vittoria wusste, dass nichts von alledem jetzt noch eine Rolle spielte. Was geschehen war, war geschehen. Mein Vater ist tot.
Der Gedanke riss sie aus ihrer Lethargie. Sie zerrte das Mobiltelefon aus der Hosentasche.
Kohlers Augen blitzten vor Zorn. »Wen. wen wollen Sie anrufen?«
»Die Vermittlung von CERN. Sie können uns direkt zu Interpol durchstellen.«
»Denken Sie nach!« Kohler hustete. »Sind Sie wirklich so naiv? Dieser Behälter kann inzwischen überall auf der Welt sein! Kein Nachrichtendienst der Erde könnte genügend Leute mobilisieren, um ihn rechtzeitig zu finden!«
»Also tun wir überhaupt nichts“?« Vittoria beschlichen Schuldgefühle, weil sie einen gesundheitlich derart beeinträchtigten Mann herausforderte, doch der Direktor hatte die Grenze so weit überschritten, dass sie ihn nicht mehr wiedererkannte.
»Wir werden tun, was klug ist«, sagte Kohler. »Wir werden nicht CERNs Ruf riskieren, indem wir Behörden einschalten, die uns sowieso nicht weiterhelfen können. Noch nicht. Nicht ohne nachzudenken.«
Vittoria wusste, dass Kohlers Argumente nicht einer gewissen Logik entbehrten, doch sie wusste auch, dass Logik - per Definition - frei war von jeglicher moralischen Verantwortung.
Ihr Vater hatte für seine moralische Verantwortung gelebt v orsichtige Wissenschaft, Zuverlässigkeit, Vertrauen in das Gute im Menschen. Vittoria glaubte ebenfalls an diese Dinge, doch sie sah sie aus der Sicht des Karma. Sie wandte sich von Kohler ab und klappte ihr Handy auf.
»Das können Sie nicht«, sagte er.
»Versuchen Sie doch, mich daran zu hindern!«
Kohler rührte sich nicht.
Einen Augenblick später wusste sie, warum. So tief unter der Erde gab es keine Trägerfrequenz.
Wutschäumend machte sie kehrt und marschierte zum Aufzug.
Kapitel 26.
Der Hashishin stand am Ende des gemauerten Tunnels. Seine Fackel brannte noch immer hell, und der Geruch dos Rauchs mischte sich mit der abgestandenen feuchten Luft. Die Eisentür, die seinen Weg versperrte, sah so alt aus wie der Tunnel selbst, rostig, doch immer noch stark. Der Hashishin wartete, umgeben von Dunkelheit, voll Vertrauen.