»Die Gruppe, die sich zu der Tat bekennt, nennt sich Illuminati.«
Vittoria starrte Kohler an, dann Langdon, und fragte sich, ob
das alles vielleicht nur ein perverser Witz sein sollte. »Die Illuminati?«, fragte sie. »Wie in Bayerische Illuminaten?«
Kohler schien verblüfft. »Sie haben von ihnen gehört?«
Vittoria spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. »Bavarian Illuminati: New World Order. Von Steve Jackson Computer Games. Die Hälfte der Techies hier spielt im Internet mit.« Ihre Stimme brach. »Aber ich verstehe nicht.«
Kohler warf Langdon einen verwirrten Blick zu.
Langdon nickte. »Ein beliebtes Spiel. Eine uralte Bruderschaft übernimmt die Weltherrschaft. Sernihistorisch. Ich wusste gar nicht, dass es in Europa auch gespielt wird.«
»Wovon reden Sie da? Von den Illuminati? Das ist doch nur ein Computerspiel!«, rief Vittoria.
»Die Illuminati«, sagte Kohler, »sind die Gruppierung, von der ich sprach. Sie haben die Verantwortung für den Tod Ihres Vaters übernommen.«
Vittoria nahm all ihre Kräfte zusammen, um die Tränen zu unterdrücken. Sie zwang sich durchzuhalten und die Situation logisch zu analysieren. Doch je mehr sie sich konzentrierte, desto weniger begriff sie. Ihr Vater war ermordet worden. Jemand war in CERN eingedrungen und hatte die Sicherheitsvorkehrungen überwunden. Irgendwo tickte eine Zeitbombe, für die sie verantwortlich war. Und der Direktor hatte einen Kunstprofessor engagiert, der ihnen bei der Suche nach einer geheimnisvollen Bruderschaft von Teufelsanbetern helfen sollte.
Mit einem Mal fühlte sie sich sehr allein. Sie wandte sich um und wollte gehen, doch Kohler schnitt ihr den Weg ab. Er griff in seine Tasche und brachte ein zerknittertes Blatt zum Vorschein, das er ihr hinhielt.
Vittoria wich entsetzt zurück, als ihr Blick auf das Foto fiel.
»Sie haben Leonardo gebrandmarkt«, sagte Kohler. »Die
llluminati haben ihr gottverdammtes Zeichen in Leonardos Brust gebrannt.«
Kapitel 28.
Die Sekretärin Sylvie Baudeloque geriet allmählich in Panik. Nervös ging sie vor dem leeren Büro des Generaldirektors auf und ab. Wo, zur Hölle, steckt er? Was mache ich jetzt nur?
Es war ein verrückter Tag gewesen. Zwar hatte jeder Tag, an dem sie für Maximilian Kohler arbeitete, ein gewisses Potenzial, aus der Bahn zu laufen - heute jedoch war Kohler in einer Form wie selten.
»Finden Sie Leonardo Vetra, auf der Stelle!«, hatte er sie angeherrscht, als sie am Morgen zur Arbeit erschienen war.
Pflichtergeben hatte Sylvie den Wissenschaftler mit dem Pager, per E-Mail und über das Telefon zu erreichen versucht.
Vergeblich.
Schließlich war Kohler aus seinem Büro gerast, allem Anschein nach, um persönlich nach Vetra zu suchen. Als er einige Stunden später wieder in sein Büro zurückgekehrt war, hatte er überhaupt nicht gut ausgesehen. nicht, dass Kohler jemals gut ausgesehen hätte - doch diesmal hatte er ganz besonders schlecht ausgesehen. Er hatte sich in seinem Büro eingeschlossen, und Sylvie hatte gehört, wie er telefoniert, Faxe verschickt und hektisch an seinem Computer gearbeitet hatte.
Dann war er erneut nach draußen gerollt und seither nicht wieder aufgetaucht.
Sylvie hatte seine Mätzchen ignoriert - ein weiteres Kohlerianisches Melodram-, doch als Kohler nicht zur rechten Zeit für seine täglichen Injektionen zurückgekehrt war, hatte sie sich Sorgen gemacht. Der Gesundheitszustand des Direktors erforderte regelmäßige Behandlung, und wenn er beschloss, sein Glück herauszufordern, waren die Resultate alles andere als berauschend. Respiratorischer Schock, Hustenanfälle und helle
Aufregung beim Pflegepersonal der Krankenabteilung. Manchmal sieht es aus, dachte Sylvie, als hätte Maximilian Kohler Todessehnsucht.
Sie überlegte, ob sie ihn noch einmal mit dem Pager rufen sollte, um ihn an seine Medikamente zu erinnern, doch Kohler war ein Mann, der jede Form von Mitleid oder Sorge um seine Gesundheit verabscheute. Erst letzte Woche war er ausgeflippt, weil ein Wissenschaftler, der ihn besucht hatte, übermäßige Rücksicht an den Tag legte. Kohler hatte sich auf seine verkrüppelten Beine gestemmt und ein Klemmbrett nach dem Mann geworfen. König Kohler konnte überraschend agil werden, wenn er pisse war.
Im Augenblick jedoch war Sylvies Sorge um Kohlers Gesundheit eher zweitrangig. verdrängt von einem sehr viel drängenderen Dilemma. Die Telefonzentrale CERNs hatte vor ein paar Minuten voller Hektik durchgeklingelt und gesagt, dass ein wichtiger Anrufer in der Leitung warte, der unbedingt mit Kohler sprechen wolle.
»Er ist nicht da«, hatte Sylvie geantwortet.
Dann hatte der Operator ihr verraten, wer der Anrufer war.
Sylvie hätte fast laut aufgelacht. »Das soll wohl ein Witz sein?«
Sie lauschte, und ungläubiges Staunen schlich sich auf ihr Gesicht. »Und der Anrufer ist wirklich.?« Sylvie runzelte die Stirn. »Ich verstehe. In Ordnung. Können Sie ihn fragen, was er.« Sie seufzte. »Nein. Ja, ich verstehe. Sagen Sie ihm, er soll in der Leitung bleiben. Ich werde den Direktor unverzüglich informieren. Ja, ich verstehe. Ich werde mich beeilen.«
Doch Sylvie hatte den Direktor nicht gefunden. Sie hatte dreimal seine Mobilnummer gewählt und jedes Mal die gleiche Auskunft erhalten: »Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht zu erreichen.« Nicht zu erreichen? Wie weit kann er sein? Also hatte Sylvie Kohlers Pager angewählt. Zweimal.
Keine Reaktion. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Sie hatte seinem mobilen Computer eine E-Mail geschickt. Nichts. Als wäre der Mann spurlos von der Erdoberfläche verschwunden.
Was mache ich jetzt nur?, fragte sie sich.
Es gab nur noch eine Möglichkeit, Kohlers Aufmerksamkeit zu wecken, bevor sie ganz CERN nach dem Direktor absuchte. Kohler wäre sicher nicht erfreut, doch der Mann am Telefon war eine Persönlichkeit, die der Direktor besser nicht warten ließ. Und der Anrufer klang auch nicht danach, als würde er sich mit der Auskunft zufrieden geben, dass der Direktor gegenwärtig nicht zu sprechen sei.
Verblüfft von ihrer eigenen Tapferkeit traf Sylvie eine Entscheidung. Sie ging in Kohlers Büro und zu dem Metallkasten an der Wand hinter seinem Schreibtisch. Sie öffnete die Klappe, starrte auf die Kontrollen und fand den richtigen Knopf.
Dann atmete sie ein letztes Mal tief durch und packte das
Mikrofon.
Kapitel 29.
Vittoria wusste nicht mehr, wie sie zum Hauptaufzug gekommen waren, doch nun fuhren sie nach oben. Kohler befand sich hinter ihr. Das Atmen bereitete ihm offenbar große Mühe. Langdons besorgter Blick ging durch Vittoria hindurch, als wäre sie ein Geist. Er hatte ihr das Fax aus der Hand genommen und es zurück in seine Jackentasche gesteckt, wo sie es nicht mehr sehen konnte, doch das Bild hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Während der Lift nach oben fuhr, versank Vittorias Welt in Dunkelheit. Papa! Sie streckte die Hände nach ihm aus, und für einen Augenblick war sie wieder bei ihm, entrückt in der Oase ihrer Erinnerungen. Sie war neun Jahre alt, rollte Hügel voller Edelweiß hinunter, und der blaue Himmel drehte sich über ihr.
Papa! Papa!
Leonardo Vetra lachte neben ihr und strahlte sie an. »Was ist denn, mein Engel?«
»Papa!« Sie kicherte und kuschelte sich ganz dicht an ihn. »Frag mich, was eine Blume ist.«
»Warum sollte ich dich fragen, was eine Blume ist, mein Engel? Du weißt doch die Antwort.«
»Frag mich einfach, Papa!«