Stille breitete sich aus.
»Sie sind fehl geleitet, mein Sohn«, sagte der Camerlengo schließlich. »Eine Kirche ist mehr als nur der Stein und der Mörtel, aus dem ihr Gebäude besteht. Sie können zwei Jahrtausende des Glaubens nicht einfach auslöschen. egal welchen Glaubens. Sie können den Glauben nicht vernichten, indem sie seine irdischen Manifestationen vernichten. Die katholische Kirche wird fortbestehen, mit dem oder ohne den Vatikan.«
»Eine noble Lüge, nichtsdestotrotz eine Lüge. Wir beide kennen die Wahrheit. Verraten Sie mir doch, warum ist die Vatikanstadt eine von Mauern umgebene Zitadelle?«
»Männer Gottes leben in einer gefährlichen Welt«, antwortete der Camerlengo.
»Wie alt sind Sie? Der Vatikan ist eine Festung, weil die katholische Kirche die Hälfte ihrer Schätze im Innern versteckt
- wertvolle Gemälde, Skulpturen, unschätzbare Juwelen, kostbare Bücher. außerdem gibt es da noch das Barrengold und die Grundbesitzurkunden in den Gewölben der Vatikanbank. Insiderschätzungen gehen von einem Wert von an die fünfzig Milliarden US-Dollar aus. Ein hübsches Nest, auf dem Sie sitzen, Camerlengo, finden Sie nicht auch? Morgen ist es nur noch Asche. Liquidierte Aktiva, würde ich sagen. Sie werden bankrott sein. Nicht einmal Männer des Glaubens können ganz ohne Geld arbeiten.«
Die Folgerichtigkeit dieser Feststellung spiegelte sich auf den geschockten Gesichtern von Olivetti und dem Camerlengo wider. Langdon wusste nicht, was ihn mehr erstaunte - die Tatsache, dass die katholische Kirche über derartige Mengen Geld verfügte oder dass die Illuminati irgendwie davon erfahren hatten.
Der Camerlengo seufzte schwer. »Glaube, nicht Geld, ist die Stütze der Kirche.«
»Noch mehr Lügen«, entgegnete der Anrufer. »Allein im letzten Jahr haben sie einhundertdreiundachtzig Millionen Dollar zur Unterstützung Ihrer ums Überleben kämpfenden Diözesen in der ganzen Welt ausgegeben. Sie hatten weniger Kirchenbesucher als jemals zuvor in Ihrer Geschichte, sechsundvierzig Prozent Rückgang allein in der letzten Dekade. Die Spendeneinnahmen haben sich in den letzten sieben Jahren halbiert. Weniger und weniger Männer melden sich für das Priesterseminar an. Sie mögen es abstreiten, so viel Sie wollen, doch Sie sind am Ende. Die Kirche wird sterben. Betrachten Sie es als eine Gelegenheit, sich mit einem großen Knall aus der Geschichte zu verabschieden.«
Olivetti trat vor. Er schien weniger kampflustig als zuvor. Vielleicht spürte er zum ersten Mal die nackte Realität. Er sah aus wie ein Mann, der nach einem Ausweg sucht. Irgendeinem Ausweg. »Und was, wenn ein Teil dieses Schatzes Ihnen zukäme? Ihrer Sache?«
»Beleidigen Sie uns nicht.«
»Wir haben Geld.«
»Wir auch. Mehr, als Sie sich vorstellen können.«
Langdon dachte an die geheimnisvollen Schätze der Illuminati, den Reichtum der Bayerischen Freimaurer, der Rothschilds, der Bilderbergs, den legendären Illuminati-Diamanten.
»Il preferiti«, sagte der Camerlengo und wechselte das Thema. Seine Stimme klang nun flehend. »Verschonen Sie die Kardinäle. Bitte. Sie sind alt, und sie.«
»Sie sind unsere jungfräulichen Opfer.« Der Anrufer lachte. »Verraten Sie mir - glauben Sie allen Ernstes, dass die vier noch Jungfrauen sind? Werden die kleinen Lämmer schreien, wenn sie sterben? Sacrifici vergini neu’altare di scienza.«
Der Camerlengo schwieg lange Zeit. »Sie sind Männer des Glaubens«, sagte er schließlich. »Sie fürchten sich nicht vor dem Tod.«
Der Anrufer schnaubte. »Leonardo Vetra war ebenfalls ein Mann des Glaubens, und doch habe ich letzte Nacht die Furcht in seinen Augen gesehen. Eine Furcht, von der ich ihn erlöst habe.«
Vittoria hatte die ganze Zeit geschwiegen, doch bei den letzten Worten sprang sie auf, das Gesicht verzerrt vor Hass. »Asino! Er war mein Vater!«
Ein hässliches Lachen drang aus dem Lautsprecher. »Ihr Vater? Was ist das? Vetra hatte eine Tochter? Sie sollten wissen, dass er am Ende gewimmert hat wie ein kleines Kind. Erbärmlich. Ein erbärmlicher Mann.«
Vittoria zuckte zurück, als hätten die Worte sie körperlich Betroffen. Langdon wollte sie halten, doch sie gewann ihr Gleichgewicht zurück und starrte mit dunklen Augen auf das Telefon. »Ich schwöre bei meinem Leben, noch bevor diese Nacht vorüber ist, habe ich Sie gefunden!« Ihre Stimme klang schneidend wie ein Rasiermesser. »Und wenn ich Sie gefunden habe.«
Der Anrufer lachte heiser. »Eine Frau mit Mumm. Das erregt mich. Vielleicht komme ich zu Ihnen, bevor die Nacht vorüber ist. Und wenn ich Sie gefunden habe.«
Die Worte schwebten im Raum, und die Leitung war tot.
Kapitel 42.
Kardinal Mortati schwitzte in seiner schwarzen Robe. Nicht nur, weil es in der Sixtinischen Kapelle allmählich heiß wurde wie in einer Sauna, sondern auch, weil das Konklave in wenig mehr als zwanzig Minuten beginnen würde und es noch immer keine Nachricht von den vier fehlenden Kardinalen gab. Das ursprünglich leise Gemurmel unter den anderen Kardinalen wegen ihrer Abwesenheit hatte sich in offene Besorgnis verwandelt.
Mortati wusste nicht, wo sich die Pflichtvergessenen herumtrieben. Vielleicht sind sie noch beim Camerlengo? Er wusste, dass der Camerlengo die vier preferiti traditionsgemäß am Nachmittag zum Tee geladen hatte, doch das war Stunden her. Sind sie vielleicht krank geworden? Haben sie etwas Verdorbenes gegessen? Mortati bezweifelte es. Jeder der vier würde selbst todkrank noch zum Konklave erscheinen. Es geschah höchstens einmal im Leben, üblicherweise niemals, dass ein Kardinal eine Chance erhielt, zum Pontifex Maximus gewählt zu werden, und nach vatikanischem Gesetz musste der Kardinal anwesend sein, wenn die Wahl stattfand. Wer fehlte, war nicht wählbar.
Obwohl es vier preferiti gab, bestand unter den Kardinalen nur wenig Zweifel, was die Person des nächsten Papstes anging. Im Verlauf der letzten fünfzehn Tage hatte es eine wahre Flut von Faxen und Anrufen gegeben, in denen mögliche Kandidaten vorgeschlagen worden waren. Wie der Brauch es wollte, hatte man aus der Fülle der Vorschläge vier preferiti ausgewählt, von denen jeder die ungeschriebenen Erfordernisse für das Amt des Papstes erfüllte:
Multilingual in Italienisch, Spanisch und Englisch.
Keine Leichen im Keller.
Zwischen fünfundsechzig und achtzig Jahren alt.
Wie üblich hatte sich einer der vier über die anderen erhoben als derjenige, den das Kollegium zur Wahl vorschlagen würde. Heute Nacht war dieser Mann Kardinal Aldo Baggia aus Mailand. Baggias makellose Akte, verbunden mit unvergleichlichen Sprachkenntnissen und der Fähigkeit, das Wesen des Christentums zu vermitteln, hatten ihn zum eindeutigen Favoriten gemacht.
Aber wo steckt er?, fragte sich Mortati.
Das Fehlen der Kardinale war deswegen besonders entnervend, weil Mortati mit der Aufgabe betraut war, das Konklave zu leiten. Eine Woche zuvor war er einstimmig vom Kollegium für das Amt des Zeremonienmeisters bestimmt worden zum internen Leiter des Konklaves. Der Camerlengo mochte der offizielle Vertreter des Papstes während der Sedisvakanz sein, doch er war jung und wenig vertraut mit dem komplizierten Wahlvorgang. Die Universi Dominici Gregis schrieben vor, dass der Zeremonienmeister die Wahl in der Sixtinischen Kapelle zu leiten hatte.
Kardinale scherzten häufig, das Amt des Zeremonienmeisters sei die grausamste Ehre, die es im Christentum gebe. Der Zeremonienmeister konnte nicht als Kandidat zur Papstwahl benannt werden, und sein Amt erforderte darüber hinaus, dass er viele Tage vor dem Konklave über den Universi Dominici Gregis verbrachte, um sich mit den Einzelheiten der komplizierten Konklavenrituale vertraut zu machen und sicherzustellen, dass die Wahl ordnungsgemäß verlief.