Wie es die vatikanische Tradition verlangte, hatte der Camerlengo persönlich den Tod des Papstes bestätigt, indem er einen Finger an die Halsschlagader gelegt, auf seinen Atem gelauscht und schließlich dreimal den Namen des Papstes gerufen hatte. Nach dem Gesetz gab es keine Autopsie.
Hernach hatte er das Schlafzimmer des Papstes verriegelt, den päpstlichen Fischerring und den Rohling für das Siegel zerstört und die Vorbereitungen für die Bestattung und das anschließende Konklave getroffen.
Konklave, dachte er. Die letzte Hürde. Es war eine der ältesten Traditionen des Christentums. Das Konklave wurde heutzutage häufig kritisiert, weil das Ergebnis in der Regel feststand, bevor das Konklave begonnen hatte - mehr eine Burleske als eine wirkliche Wahl. Der Camerlengo wusste, dass nur ein Mangel an Verständnis für diese Kritik verantwortlich war. Das Konklave war mehr als eine Wahl. Es war ein alter, mystischer Transfer von Macht. Die Tradition war zeitlos. die Heimlichkeit, die gefalteten Blätter, das Verbrennen der Stimmzettel, die Mischung alter Chemikalien, die Rauchsignale.
Während der Camerlengo die Loggien von Gregor XIII. durchschritt, überlegte er, ob Kardinal Mortati bereits in Panik
war. Ohne Zweifel hatte der Zeremonienmeister inzwischen bemerkt, dass die vier preferiti fehlten. Ohne sie würde das Konklave die ganze Nacht andauern. Mortatis Ernennung zum Zeremonienmeister war eine gute Wahl, sagte sich der Camerlengo. Mortati war ein Freidenker und in der Lage, seine Meinung zu sagen. Heute Nacht würde das Konklave mehr denn je Führung benötigen.
Als der Camerlengo oben auf der Scala Regia angekommen war, erfüllte ihn ein Gefühl, als stünde er vor dem tiefsten Abgrund seines Lebens. Selbst von hier oben waren die Stimmen in der Sixtinischen Kapelle zu hören, die aufgeregten Unterhaltungen der einhundertfünfundsechzig Kardinale.
Einhunderteinundsechzig Kardinale, verbesserte er sich.
Einen Augenblick lang glaubte er zu fallen, tief hinunter in die Hölle, vorbei an schreienden Menschen. Flammen hüllten ihn ein, und vom Himmel regneten Blut und Steine. Dann herrschte Stille.
Als der Knabe erwachte, fand er sich im Himmel wieder. Alles ringsum war weiß. Das Licht blendete in seiner Reinheit. Obwohl ein Zehnjähriger normalerweise kaum in der Lage war, den Himmel zu verstehen, begriff der junge Carlo Ventresca sehr genau, wo er sich befand. Er war im Himmel, hier und jetzt. Wo sonst konnte er sein? Selbst in den kurzen zehn Jahren seines Lebens hatte Carlo die Herrlichkeit Gottes gespürt die donnernden Kirchenorgeln, die riesigen Kuppeln, die bewegenden Chöre, die bunten Fenster voll Bronze und Gold. Carlos Mutter Maria nahm den Knaben jeden Tag mit zur Messe. Die Kirche war sein Zuhause.
»Warum gehen wir jeden Tag zur Messe?«, hatte er einmal gefragt.
»Weil ich es Gott versprochen habe«, hatte seine Mutter geantwortet. »Und ein Versprechen gegenüber Gott ist das wichtigste Versprechen von allen. Brich niemals ein
Versprechen gegenüber Gott!«
Carlo hatte es ihr geschworen. Er liebte seine Mutter mehr als alles andere auf der Welt. Sie war sein heiliger Engel. Manchmal nannte er sie gebenedeite Maria, - die gesegnete Maria, obwohl sie das überhaupt nicht gerne hörte. Er kniete bei ihr, roch den süßen Duft ihrer Haut und lauschte dem Murmeln ihrer Stimme, während sie den Rosenkranz betete. Heilige Maria, voll der Gnaden... Mutter Gottes... bete für uns Wunder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.
»Wo ist mein Vater?«, fragte Carlo immer, obwohl er bereits wusste, dass er vor seiner Geburt gestorben war.
»Gott ist dein Vater, mein Sohn«, lautete die stets gleiche Antwort. »Du bist ein Kind der Kirche.«
Das gefiel Carlo.
»Wann immer du Angst verspürst«, sagte sie, »vergiss nie, dass Gott dein Vater ist. Er wird über dich wachen und dich schützen, solange du lebst. Gott hat große Pläne mit dir, mein Sohn.« Der Knabe wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Er konnte Gott in seinem Blut spüren.
Blut.
Blut regnet vom Himmel!
Stille. Dann - der Himmel.
Doch sein Himmel war in Wirklichkeit die Intensivstation des Santa Clara Ospedale außerhalb von Palermo, stellte Carlo fest, nachdem jemand das blendende Licht abgeschaltet hatte. Carlo war der einzige Überlebende eines Bombenattentats, das eine Kapelle zum Einsturz gebracht hatte. Er war mit seiner Mutter im Urlaub auf Sizilien, und sie waren zur Messe in die Kapelle gegangen. Siebenunddreißig Menschen waren gestorben, darunter Carlos Mutter. Die Zeitungen sprachen von einem Wunder, dem Miracolo di S. Francesco, weil Carlo überlebt hatte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war der Knabe wenige Augenblicke vor der Explosion von der Seite seiner Mutter gewichen und in einen geschützten Alkoven gegangen, um einen Wandteppich zu bewundern, auf dem das Wirken des heiligen Franziskus dargestellt war.
Gott hat mich dorthin gerufen, sagte sich der Knabe. Er wollte mich retten.
Carlo litt unter Schmerzen und Fieberfantasien. Er sah seine Mutter auf der Kirchenbank knien und ihm einen Handkuss zuwerfen - und dann, mit einem ohrenbetäubenden Krachen, wurde ihr süß duftendes Fleisch zerfetzt. Er schmeckte das Böse in den Menschen. Blut regnete auf ihn herab. Das Blut seiner Mutter, der gesegneten Maria!
Gott wird über dich wachen und dich beschützen, solange du lebst!, hatte seine Mutter zu ihm gesagt. Und wo war Gott jetzt?
Dann war ein Geistlicher in das Krankenhaus gekommen, wie eine weltliche Manifestation der Wahrheit hinter den Worten seiner Mutter. Er war nicht irgendein Geistlicher gewesen. Er war ein Bischof. Er betete für Carlo. Das Wunder von San Francesco. Als Carlo wieder genesen war, brachte ihn der Bischof zu einer kleinen Abtei, die zu seinem Bistum gehörte und auf dem Gelände seiner Kathedrale stand. Carlo lebte und lernte unter Mönchen. Er wurde sogar Messdiener für seinen neuen Beschützer. Der Bischof schlug vor, dass Carlo eine öffentliche Schule besuchen sollte, doch Carlo weigerte sich. Er hätte nicht glücklicher sein können in seinem neuen Zuhause. Er wusste nun, dass er wirklich und wahrhaftig im Hause Gottes wohnte.
Jede Nacht betete Carlo für seine Mutter.
Gott hat mich aus einem ganz bestimmten Grund gerettet, dachte er. Was ist das für ein Grund?
Als Carlo sechzehn Jahre alt war, wurde er nach dem italienischen Gesetz wehrpflichtig. Der Dienst dauerte zwei Jahre, Der Bischof sagte zu ihm, dass er vom Wehrdienst befreit würde, falls er das Priesterseminar besuche. Carlo antwortete, dass er sehr gerne in das Seminar eintreten würde, doch zuvor müsse er das Böse verstehen.
Der Bischof begriff nicht.
Carlo erklärte, dass er vorhabe, sein Leben in der Kirche und mit dem Kampf gegen das Böse zu verbringen, doch dazu müsse er es zuerst verstehen. Und er konnte sich keinen besseren Ort dafür denken als die Armee. Die Armee setzte Waffen und Bomben ein. Seine gesegnete Mutter war von einer Bombe zerfetzt worden!
Der Bischof bemühte sich, ihn von seiner Idee abzubringen, doch Carlos Entschluss stand fest.
»Sei vorsichtig, mein Sohn«, hatte der Bischof gesagt. »Und vergiss nicht, die Kirche wartet auf dich, wenn du deinen Dienst abgeleistet hast.«
Die zwei Jahre beim Militär waren grässlich gewesen. Carlo hatte seine Jugend in Stille und Kontemplation verbracht, in der Armee gab es keine Stille und keine Möglichkeit zur Reflexion. Endloser Lärm. Gewaltige Maschinen überall. Keinen Augenblick Frieden, Stille. Obwohl die Soldaten einmal in der Woche zur Messe gingen, spürte Carlo bei keinem seiner Kameraden die Gegenwart Gottes. Ihre Köpfe waren zu sehr mit Chaos gefüllt, um Gott zu sehen.