Carlo hasste sein neues Leben, doch er war entschlossen, die Zeit durchzustehen. Er hatte das Böse noch nicht begriffen.
Er weigerte sich, eine Waffe abzufeuern, und so lehrte ihn das Militär, einen Sanitätshubschrauber zu fliegen. Carlo hasste den Lärm und den Gestank, doch auf diese Weise konnte er hoch in den Himmel steigen und seiner Mutter näher sein. Als man ihn informierte, dass die Ausbildung auch Fallschirmspringen einschloss, spürte Carlo schreckliche Angst. Doch ihm blieb keine andere Wahl, als sich zu fügen.
Gott wird mich beschützen, sagte er sich.
Carlos erster Absprung mit dem Fallschirm war die aufregendste körperliche Erfahrung seines bisherigen Lebens. Es war, als flöge er mit Gott. Carlo konnte überhaupt nicht genug davon bekommen. die Stille. das Schweben. das Gesicht seiner Mutter in den aufgetürmten weißen Wolken, während er der Erde entgegenraste. Gott hat Pläne mit dir, Carlo. Als er seine Dienstzeit beim Militär hinter sich hatte, trat er dem Priesterseminar bei.
Das war vor dreiundzwanzig Jahren gewesen.
Der Camerlengo stieg die Scala Regia hinunter und versuchte die Kette von Ereignissen zu verstehen, die ihn in diese ungewöhnlichen Lebensstation geführt hatte.
Leg alle Furcht ab, sagte er sich, und begib dich in die Hand Gottes.
Vor sich sah er die schwere bronzene Doppeltür der Sixtinischen Kapelle, bewacht von vier pflichtbewussten Schweizergardisten. Die Hellebardiere schoben den massiven Riegel zurück und zogen die Türen auf. Im Innern der Kapelle wandte sich jeder Kopf zu ihm um. Der Camerlengo erwiderte ihre Blicke, musterte die schwarzen Roben und roten Schärpen. Er verstand nun, welche Pläne Gott mit ihm hatte. Das Schicksal der Kirche lag in seinen Händen.
Der Camerlengo bekreuzigte sich und trat über die Schwelle.
Kapitel 48.
Der BBC-Journalist Günther Glick saß schwitzend im Übertragungswagen, der auf der östlichen Seite des Petersplatzes geparkt stand, und verfluchte seinen Chefredakteur, der ihn hierher geschickt hatte. Obwohl Glicks erster Monatsbericht voller Superlative gewesen war -einfallsreich, mit spitzer Feder verfasst und mit zuverlässigen Informationen gespickt - saß er nun hier vor dem Vatikan auf »Papstwache«, Er rief sich ins Gedächtnis, dass die Berichterstattung für die BBC wesentlich glaubwürdiger war als das Garn, das er sich Für den British Tattier zurechtgesponnen hatte. Trotzdem entsprach das hier bei weitem nicht seiner Vorstellung von Reportage.
Glicks Auftrag war einfach. Beschämend einfach. Er hatte hier zu sitzen und darauf zu warten, dass eine Bande alter Knacker ihren nächsten Oberfurz wählte, um anschließend nach draußen zu gehen und einen Fünfzehn-Sekunden-»Live«-Spot mit dem Vatikan im Hintergrund zu liefern.
Brillant.
Glick konnte einfach nicht glauben, dass die BBC immer noch Reporter aussandte, um von diesem Mst zu berichten. Kein einziger amerikanischer Sender ist beute Nacht hier. Verdammt, nein! Das lag daran, dass die großen Jungs es richtig machten. Sie sahen CNN, brachten Zusammenfassungen und filmten anschließend ihren »Live«-Bericht vor einem Bluescreen, über den in der Nachbearbeitung ein Konservenvideo vom Vatikan gelegt wurde. MSNBC setzte sogar Windmaschinen und Regner im Studio ein, um den »Reporter« authentischer wirken zu lassen. Die Zuschauer interessierten sich längst nicht mehr für die Wahrheit; sie wollten Unterhaltung, weiter nichts.
Glick starrte durch die Scheibe nach draußen, und seine Depression nahm zu. Der vatikanische Berg ragte vor ihm auf eine beeindruckende Erinnerung an das, was Menschen erreichen konnten, wenn sie nur entschlossen genug ans Werk gingen.
»Was habe ich in meinem Leben erreicht?«, fragte er sich laut. »Nichts.«
»Dann gib’s endlich auf«, erwiderte eine Frauenstimme hinter ihm.
Glick zuckte zusammen. Er hatte fast vergessen, dass er nicht allein war. Er wandte sich nach hinten um, wo seine Kamerafrau Chinita Macri saß und schweigend ihre Brillengläser putzte, wie sie es ununterbrochen tat. Chinita war schwarzhäutig, leicht übergewichtig und höllisch gerissen, was sie einen ständig spüren ließ. Sie war schon ein seltsamer Vogel, doch Glick mochte sie. Und er konnte ein wenig Gesellschaft verdammt gut gebrauchen.
»Was hast du für ein Problem, Günther?«, fragte sie.
»Was tun wir hier?«
Sie polierte weiter ihre Brille. »Wir berichten von einem aufregenden Ereignis.«
»Alte, im Dunkeln eingesperrte Männer sollen aufregend sein?«
»Du weißt, dass du in die Hölle kommst, nicht wahr?«
»Ich bin schon da.«
»Rede mit mir.« Sie klang wie seine Mutter.
»Ich möchte nur irgendwas erreichen. Etwas Besonderes.«
»Du hast für den British Tattler geschrieben.«
»Ja, aber nichts, das irgendwelche Resonanz hervorgerufen hätte.«
»Aber, aber, Günther. Ich habe von deinem irren Artikel über
das geheime Sexualleben der Queen mit Außerirdischen gehört, Einfach toll.«
»Danke.«
»Hey, die Dinge wenden sich zum Besseren. Heute Nacht schreibst du deine ersten fünfzehn Sekunden Fernsehgeschichte.«
Glick stöhnte auf. Er hörte bereits den Nachrichtensprecher vor sich. »Danke, Günther, großartiger Bericht.« Dann würde er die Augen verdrehen und über das Wetter sprechen. »Ich hätte mich als Sprecher bewerben sollen.«
Chinita lachte. »Was denn, ohne Erfahrung? Und mit deinem Bart? Vergiss es!«
Glick fuhr sich mit der Hand durch den rötlichen Filz unterm Kinn. »Ich dachte eigentlich immer, dass ich damit clever aussehe.«
Das Mobiltelefon klingelte und unterbrach glücklicherweise einen weiteren von Glicks erfolglosen Anläufen. »Vielleicht der Chefredakteur«, sagte er in einem Anflug neuer Hoffnung. »Glaubst du, sie wollen einen Zwischenbericht?«
»Über diese Geschichte?« Chinita lachte. »Träum schön weiter.
Glick nahm den Anruf entgegen und meldete sich mit seiner besten Nachrichtensprecherstimme: »Günther Glick, BBC - live aus Vatikanstadt.«
Der Mann am anderen Ende sprach mit schwach arabischem Akzent. »Hören Sie jetzt genau zu«, sagte er. »Ich werde Ihr Leben verändern.«
Kapitel 49.
Langdon und Vittoria standen allein vor der großen Doppeltür, die ins Innere der Geheimarchive führte. Das Dekor des Säulengangs bestand aus einer willkürlichen Mischung von Gobelins über marmornen Böden und teilnahmslosen Sicherheitskameras neben Engelsskulpturen an der Decke. Langdon nannte das Sammelsurium im Stillen sterile Renaissance. Neben dem gewölbten Durchgang hing eine kleine Bronzeplakette.
ARCHIVIO VATICANO Curatore Padre Jaqui Tomaso
Vater Jaqui Tomaso. Langdon kannte den Namen von den zahlreichen Ablehnungsschreiben, die er bei sich zu Hause auf dem Schreibtisch liegen hatte. Sehr geehrter Mr. Langdon, mit Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass es unmöglich ist...
Bedauern. Blödsinn. Langdon kannte keinen einzigen amerikanischen nichtkatholischen Gelehrten, dem Zutritt zu den Vatikanischen Geheimarchiven gewährt worden wäre, seit Jaqui Tomaso die Leitung übernommen hatte. Il guardiano, so hatten die Historiker ihn getauft. Jaqui Tomaso war der unnachgiebigste Bibliothekar der Welt.
Als Langdon die Türen aufzog und durch das gewölbte Portal in das Allerheiligste trat, rechnete er beinahe damit, dass Vater Jaqui in Uniform und Helm und mit einer Panzerfaust den Eingang bewachte. Doch niemand erwartete sie. Der Raum lag leer vor ihnen.