Stille. Gedämpfte Beleuchtung.
Das Archivio Vaticano. Einer von Robert Langdons Lebensträumen wurde wahr.
Während seine Blicke durch die geheiligten Hallen schweiften, empfand er beinahe so etwas wie Schuldgefühle. Er
erkannte, was für ein unreifer Romantiker er im Grunde genommen doch war. Das Bild, das er sich im Lauf der Jahre von diesem Raum gemacht hatte, hätte unzutreffender nicht sein können. Langdon hatte sich staubige Bücherregale vorgestellt, die vor alten, zerfledderten Folianten überquollen, Priester, die bei Kerzenlicht die Bestände katalogisierten, Bleiglasfenster und Mönche mit Federkielen über Schriftrollen.
Was nicht einmal annähernd der Wirklichkeit entsprach.
Auf den ersten Blick erschien der Raum wie ein dunkler Fugzeughangar, in den jemand ein Dutzend frei stehender Raquetballfelder mit gläsernen Wänden gebaut hatte. Langdon wusste selbstverständlich, wozu die aus Glas bestehenden Zellen dienten. Er war nicht überrascht, sie hier anzutreffen - es waren Büchertresore, hermetisch gegen Feuchtigkeit und Wärme isoliert, luftdichte Kammern, die verhindern sollten, dass das alte Papier und Pergament noch weiter zerfiel. Langdon war schon häufig in Büchertresoren gewesen, doch es war jedes Mal aufs Neue eine beunruhigende Erfahrung, einen luftdichten Container zu betreten, während draußen ein fremder Bibliothekar die Sauerstoffzufuhr regulierte.
Die Tresore lagen in geisterhafter Dunkelheit, kaum zu erkennen im Licht der schwachen Deckenlampen. In der Schwärze jedes Containers nahm Langdon undeutlich die Umrisse der monströsen Regale wahr, Reihe um Reihe mit Geschichte beladene Türme. Es war eine schier unglaubliche Sammlung.
Auch Vittoria, die hinter ihm stand, starrte sprachlos auf die gigantischen transparenten Container.
Die Zeit war knapp, sodass Langdon gar nicht erst im Halbdunkel der Halle nach einem Bibliothekskatalog suchte -den es wohl auch nicht gab, denn er bemerkte eine Hand voll schwach erleuchteter Computerterminals, die gleichmäßig verteilt in der Halle standen. »Sieht aus, als hätten sie ein
Bibliotheksprogramm«, sagte er. »Ihr Verzeichnis ist elektronisch gespeichert.«
Vittoria warf ihm einen hoffnungsvollen Blick zu. »Das sollte die Suche vereinfachen, nicht wahr?«
Er hätte gerne ihre Zuversicht geteilt, hatte jedoch das ungute Gefühl, dass diese Neuigkeit keine gute Nachricht war. Er trat zu einem Terminal und tippte etwas ein. Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich augenblicklich. »Die altmodische Methode wäre besser gewesen.«
»Warum?«
Er wandte sich vom Monitor ab. »Weil richtige Bücher nicht durch Passwörter geschützt sind. Ich nehme nicht an, dass Physiker geborene Hacker sind?«
Vittoria schüttelte den Kopf. »Ich kann Austern öffnen, mehr nicht.«
Langdon atmete tief durch und blickte auf die langen Reihen unheimlicher transparenter Container. Er trat zum nächststehenden und spähte in das düstere Innere. Hinter dem Glas sah er undeutliche Umrisse, die er als gewöhnliche Regale, Pergamentbehälter und Lesetische erkannte. Er starrte angestrengt auf die Beschriftung am Ende jedes einzelnen Regals - wie in allen Bibliotheken der Welt war dort zu lesen, was die Regale enthielten. Er las, während er langsam an der transparenten Barriere entlangging:
PIETRO IL ERIMITO. LE COCIATE. URBANO II. LEVANT.
»Sie sind beschriftet«, sagte er zu Vittoria. »Aber leider nicht alphabetisch nach den Autoren.« Was ihn im Grunde genommen nicht weiter überraschte. Alte Archive wie dieses waren fast nie alphabetisch geordnet, weil zahlreiche Autoren unbekannt waren. Eine Sortierung nach Titeln war ebenfalls nicht möglich, weil viele historische Dokumente nur als Fragmente vorlagen oder überhaupt keinen Titel besaßen. Bei den meisten Katalogen wurde daher chronologisch vorgegangen. Was hier jedoch ebenfalls nicht zutraf, wie Langdon zu seiner Bestürzung rasch feststellte.
Er spürte, wie kostbare Zeit unter seinen Fingern verrann. »Sieht aus, als hätte der Vatikan sein eigenes System.«
»Was für eine Überraschung.«
Langdon untersuchte die Beschriftungen erneut. Die Dokumente auf den Regalen umfassten Jahrhunderte - doch die Schlüsselworte standen alle in einem bestimmten Bezug zueinander. »Ich glaube, sie sind thematisch klassifiziert«, sagte er schließlich.
»Thematisch?«, erwiderte Vittoria im Tonfall einer enttäuschten Wissenschaftlerin. »Das klingt nicht gerade effizient.«
Bei genauerer Betrachtung, dachte Langdon, habe ich noch nie eine derart schlaue Katalogisierung gesehen. Er hatte gegenüber seinen Studenten stets betont, wie wichtig es war, die Gesamtheit der Motive und Schattierungen einer künstlerischen Epoche zu betrachten und sich nicht in den einzelnen Daten und spezifischen Arbeiten zu verlieren. Die Vatikanischen Archive waren, wie es schien, nach genau dieser Philosophie katalogisiert. Breite Spektren...
»Alles in diesem Tresor hier«, sagte er und spürte, wie seine Zuversicht wuchs, »hat mit den Kreuzzügen zu tun. Material aus mehreren Jahrhunderten über die Kreuzzüge. Das ist das Thema dieses Containers.« Es war alles dort. Historische Berichte, Briefe, Kunstwerke, soziopolitische Daten, moderne Analysen. Alles an einem Ort... sodass der tiefere Zugang Zum Thema erleichtert wird. Brillant.
Vittoria runzelte die Stirn. »Aber die Daten können zu vielen Themen gleichzeitig in Beziehung stehen.«
»Deswegen gibt es Querverweise zu weiteren Standorten.« Langdon deutete durch das Glas auf die bunten
Plastikschildchen, die zwischen den langen Reihen von Dokumenten aus den Regalen ragten. »Sie verweisen auf andere Dokumente, die bei anderen Themenbereichen eingegliedert stehen.«
»Sicher«, sagte sie in offensichtlicher Resignation. Sie stemmte die Hände in die Hüften und ließ den Blick durch den riesigen Raum schweifen. Dann schaute sie Langdon an. »So, Professor, und wie war der Name von diesem Galileo-Ding, nach dem wir suchen?«
Langdon musste unwillkürlich grinsen. Irgendwie konnte er immer noch nicht fassen, dass er tatsächlich im vatikanischen Geheimarchiv stand. Es ist hier drin, dachte er. Irgendwo hier in der Dunkelheit. Es wartet darauf, dass ich es finde.
»Folgen Sie mir«, sagte er und setzte sich durch den ersten Gang zwischen den Containern hindurch in Bewegung, während er die Beschriftungen las. »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen über den Weg der Erleuchtung erzählt habe? Wie die Illuminati neue Mitglieder rekrutierten und sie dabei zugleich einer kunstvollen Probe unterzogen?«
»Die Schnitzeljagd«, sagte Vittoria dicht hinter ihm.
»Nachdem die Illuminati die Wegweiser aufgestellt hatten, blieb ein Problem zu lösen. Sie mussten der wissenschaftlichen Gemeinde irgendwie mitteilen, dass es den Weg der Erleuchtung gab.«
»Logisch«, sagte Vittoria. »Ansonsten hätte wohl kaum jemand danach gesucht.«
»Richtig. Doch selbst wenn die Wissenschaftler von der Existenz des Weges wussten, konnten sie nicht wissen, wo er begann. Rom ist riesig.«
»Keine Einwände.«
Langdon überflog die Beschriftungen im nächsten Gang, während er weiterredete. »Vor etwa fünfzehn Jahren habe ich zusammen mit ein paar Historikern von der Sorbonne eine Reihe von Illuminati-Briefen mit Hinweisen auf il segno entdeckt.«
»Das Zeichen. Die Ankündigung, dass der Weg existiert und wo er seinen Anfang nimmt.«
»Ja. Seit damals haben viele Illuminati-Forscher -einschließlich meiner selbst - weitere Hinweise auf il segno entdeckt. Heutzutage geht man einvernehmlich davon aus, dass dieser Hinweis existiert und dass Galileo ihn der wissenschaftlichen Gemeinde seiner Zeit hat zukommen lassen, ohne dass der Vatikan je etwas erfahren hätte.«
»Wie das?«
»Das wissen wir nicht genau. Höchstwahrscheinlich durch Bedruckte Veröffentlichungen. Er hat im Lauf der Jahre sehr viele Bücher und Zeitungen herausgegeben.«