»Wie auch immer. Hauptsache, Sie sind sicher.« Sie suchte die Regale zur Linken ab, während er sich nach rechts wandte.
Langdon musste sich zusammenreißen, um nicht bei jedem der zahllosen Schätze vor seinen Augen innezuhalten und darin zu lesen. Die Sammlung war schlichtweg atemberaubend.
Saggiatore... Sidereus Nundus... Istoria e dimostrazione intorno alle macchie solari... Apologiapro Galileo... es nahm kein Ende.
Doch es war Vittoria, die schließlich ganz hinten im Tresor den Volltreffer landete. »Diagramma della Veritä!«, rief sie mit heiserer Stimme.
Langdon war mit einem Satz bei ihr. »Wo?«
Vittoria deutete auf einen großen Kasten, und Langdon erkannte, warum sie es nicht früher gefunden hatten. Das Manuskript war ungebunden und lagerte, wie für derartige Werke üblich, in einem Foliantenbehälter. Das Etikett auf der Vorderseite ließ keinen Zweifel am Inhalt:
DIAGRAMMA DELLA VERITÄ Galileo Galilei, 1639
Langdon kniete mit klopfendem Herzen vor dem Kasten
nieder. »Diagramma«, flüsterte er und grinste sie an. »Gute Arbeit. Helfen Sie mir, den Kasten herauszuziehen.«
Vittoria kniete neben ihm nieder, und sie zogen. Die Metalllade, auf der die Kiste ruhte, rollte ihnen entgegen, und die Oberseite des Behälters wurde sichtbar.
»Kein Schloss?«, fragte Vittoria überrascht, als sie den einfachen Riegel bemerkte.
»Nein, niemals. Manchmal müssen Dokumente sehr schnell in Sicherheit gebracht werden. Bei Überschwemmungen oder
Feuer, zum Beispiel.«
»Machen Sie’s schon auf.«
Langdon benötigte keine zweite Aufforderung. Der Traum seines akademischen Lebens lag vor ihm, doch die dünne Luft im Tresor trug ihren Teil dazu bei, dass er den Moment nicht Länger auskostete. Er schob den Riegel zurück und hob den Deckel an. In der Kiste lag eine schwarze Segeltuchhülle. Die
Luftdurchlässigkeit war lebenswichtig, um den Inhalt zu schützen. Mit beiden Händen griff Langdon in die Kiste und hob den Stoffumschlag vorsichtig heraus.
»Ich hatte eigentlich eine Schatztruhe erwartet«, sagte Vittoria. »Wenn Sie mich fragen, so sieht es eher aus wie eine Kissenhülle.«
»Kommen Sie mit«, erwiderte Langdon. Er trug die Stoffhülle vor sich her wie ein geheiligtes Opfer und ging damit zur Mitte des Tresors, wo der in Archiven übliche Lesetisch mit gläserner Platte stand. Die zentrale Position diente dazu, die
Dokumente möglichst wenig zu bewegen; gleichzeitig boten die Regale ringsum eine gewisse Privatsphäre. In den Gewölben der großen Archive wurden bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen, und die meisten Akademiker mochten überhaupt nicht, wenn Konkurrenten ihnen bei ihren Arbeiten über die Schulter sahen.
Langdon legte die Hülle auf den Tisch und knöpfte sie auf. Vittoria stand neben ihm und schaute zu. Er kramte in einer Schublade mit Werkzeugen und fand schließlich die mit Filz gepolsterten Flachpinzetten, die Archivare zum Umblättern antiker Seiten benutzten. Langdons Aufregung stieg ins Unermessliche. Er befürchtete beinahe, jeden Augenblick daheim in Cambridge aus einem Traum aufzuwachen und vor einem Stapel Klausuren zu sitzen, die er korrigieren musste. Er atmete tief durch und öffnete den Stoffumschlag. Mit zitternden Fingern schob er das Werkzeug hinein.
»Entspannen Sie sich«, sagte Vittoria. »Es ist Papier, kein Plutonium.«
Langdon packte den Stapel Papier im Innern und hielt ihn an Ort und Stelle fest, während er den Stoff nach hinten wegzog -die gewöhnliche Prozedur, um das Artefakt möglichst schonend aus seiner Hülle zu ziehen. Erst als die Hülle ganz entfernt war und Langdon das Untersuchungslicht eingeschaltet hatte, beruhigte sich sein Atem wieder.
Vittoria sah im Schein des roten Lichts wie ein Gespenst aus. »Ziemlich kleine Blätter«, sagte sie mit ehrfürchtiger Stimme.
Langdon nickte. Die Blätter waren nicht größer als Taschenbuchseiten. Das Deckblatt war kunstvoll mit Titel, Datum und Galileos eigenhändiger Unterschrift geschmückt.
Langdon vergaß seine beengte Umgebung, seine Klaustrophobie und die schreckliche Lage, die ihn hierher geführt hatte. Er starrte voller Staunen auf das vor ihm liegende Manuskript. Derart hautnahe Begegnungen mit der Geschichte ließen ihn stets vor Ehrfurcht erstarren. als stünde er vor der Mona Lisa und sähe die Pinselstriche mit eigenen Augen.
Der vergilbte, stumpfe Papyrus ließ keinen Zweifel an seinem Alter und seiner Echtheit aufkommen, doch von dem unausweichlichen Verbleichen abgesehen war das gesamte Dokument in fantastischem Zustand. Langdon betrachtete die kunstvolle Schrift auf der ersten Seite, und seine Sicht verschwamm ein wenig wegen der trockenen Luft. Vittoria stand schweigend neben ihm.
»Geben Sie mir bitte einen Spatel, Vittoria.« Langdon deutete auf die mit Spezialwerkzeugen gefüllte Schublade. Sie reichte ihm den Spatel, und er schob die Klinge unter das Deckblatt, um die erste Seite aufzuschlagen.
Die erste Seite war in Langschrift beschrieben; die winzigen kalligrafischen Zeichen kaum zu entziffern. Langdon bemerkte sogleich, dass es weder Zahlen noch Diagramme gab. Es handelte sich um einen Aufsatz.
»Heliozentrizität«, sagte Vittoria und übersetzte damit die
Kapitelüberschrift auf der ersten Seite. Sie überflog den Text. Sieht aus, als würde Galileo das Modell ein für alle Mal von sich weisen. Es ist auf Altitalienisch, deswegen würde ich meine Hand für die Übersetzung nicht ins Feuer legen.«
»Vergessen Sie’s«, sagte Langdon. »Wir suchen nach Formeln. Mathematik, die reine Sprache.« Er benutzte den Spatel, um weitere Seiten umzublättern. Ein weiterer Aufsatz. Keine Mathematik, keine Diagramme. Langdon bekam in den Handschuhen feuchte Finger.
»Die Bewegung der Planeten«, übersetzte Vittoria die Überschrift.
Langdon runzelte die Stirn. An jedem anderen Tag hätte er sich voller Faszination dem Text gewidmet. Es war unglaublich, doch das heutige Planetenmodell, durch hochauflösende Teleskope beobachtet, stimmte bis ins Detail mit dem Modell überein, das Galileo vor Jahrhunderten entwickelt hatte.
» Keine Mathematik«, sagte Vittoria. »Er schreibt über umgekehrte Bewegung und über elliptische Orbits, wenn ich mich nicht irre.«
Elliptische Orbits. Langdon rief sich ins Gedächtnis, dass ein großer Teil von Galileos Problemen damit begonnen hatte, dass er die Planetenbewegungen als elliptisch beschrieb. Der Vatikan bestand auf der Vollkommenheit der Kreisbewegung und auf der Behauptung, dass die Himmelsgeometrie kreisförmig sein müsse. Galileos Illuminati jedoch erkannten auch die Perfektion der Ellipse und die mathematische Erhabenheit zweier Brennpunkte.
»Die nächste Seite«, sagte Vittoria.
Langdon blätterte um.
»Mondphasen und Gezeitenbewegungen«, übersetzte sie. »Keine Zahlen, keine Diagramme.«
Langdon blätterte weiter. Wieder nichts. Er blätterte ein Dutzend Seiten oder mehr um. Nichts, nichts und wieder nichts. »Ich dachte, dieser Typ sei Mathematiker gewesen«, sagte Vittoria. »Das hier ist nur Text.«
Langdon spürte, wie er allmählich unter Atemnot zu leiden begann. Seine Hoffnungen schwanden dahin.
»Nichts«, sagte Vittoria. »Keine Mathematik. Ein paar Daten, ein paar Zahlen, aber keine Formeln, nichts, das nach einem Hinweis aussieht.«
Langdon blätterte bis zur letzten Seite und seufzte. Auch sie enthielt nur Text.
»Ziemlich kurzes Werk«, sagte Vittoria und runzelte die Stirn.
Langdon nickte.
»Merda, wie wir in Rom zu sagen pflegen.«
»Scheiße« - das trifft es genau, dachte Langdon. Sein Spiegelbild im Glas schien spöttisch zu grinsen, wie die Reflexion im Erkerfenster zu Hause, am frühen Morgen. Ein alterndes Gespenst. »Es muss aber irgendetwas drinstehen!«, sagte er, und die offenkundige Verzweiflung in seiner Stimme überraschte ihn selbst. »Das segno ist hier irgendwo versteckt. Ich weiß, dass es hier drin ist!«