»Aber das hier wurde im siebzehnten Jahrhundert geschrieben«, entgegnete Langdon. »Niemand im Italien des siebzehnten Jahrhunderts hat Englisch gesprochen, nicht einmal die..« Er hielt inne, als ihm bewusst wurde, was er sagen wollte. »Nicht einmal. die Geistlichkeit.«
Sein akademischer Verstand lief auf Hochtouren. »Im siebzehnten Jahrhundert«, fuhr er fort und redete nun hastiger, »hatte sich das Englische noch nicht im Vatikan durchgesetzt. Man unterhielt sich auf Italienisch, Latein, Griechisch, Deutsch, selbst Spanisch und Französisch, aber Englisch war im Vatikan völlig fremd. Die Geistlichkeit betrachtete das Englische als eine vergiftete Sprache von Freidenkern wie Chaucer oder Shakespeare.« Plötzlich kam ihm die wissenschaftlich umstrittene Hypothese wieder in den Sinn, dass die
Brandzeichen der Illuminati, die Symbole für Erde, Luft, Feuer und Wasser, in englischer Sprache gehalten wären. Mit einem Mal ergab alles einen bizarren Sinn.
»Also hat Galileo Englisch als lingua pura, betrachtet, weil es die einzige Sprache war, die im Vatikan nicht gesprochen wurde?«
»Ja. Vielleicht hat er auch einfach nur versucht, den vatikanischen Prüfern seine Botschaft vorzuenthalten.«
» Aber es ist kein Hinweis!«, widersprach Vittoria. Der Licbtpfad ist gelegt, der heilge Test? Was soll das bedeuten?«
Sie hat Recht, dachte Langdon. Die Zeile half ihnen nicht weiter. Doch während er die Worte in Gedanken wiederholte, kam ihm eine merkwürdige Idee. Das ist eigenartig, dachte er. Wie groß stehen die Chancen, dass es sich so verhält?
»Wir müssen nach draußen«, sagte Vittoria. Sie klang heiser.
Langdon hörte gar nicht zu. Der Lichtpfad ist gelegt, der heilge Test. Fünf Versfüße aus alternativ betonten und unbetonten Silben. »Es ist ein fünfhebiger Jambus!«, sagte er unvermittelt.
Vittoria blickte ihn fragend an. »Ein was?«
Für einen Augenblick war Langdon wieder auf der Phillips Exeter Academy. Es war Samstagmorgen, und er saß im Englischunterricht. Hölle auf Erden. Der Baseballstar der Schule, Peter Greer, hatte Mühe, sich an die Zahl von Versfüßen zu erinnern, die für einen typischen shakespeareschen Fünfheber nötig waren. Der Lehrer, ein lebhafter Schulmeister namens Bisseil, sprang wutentbrannt auf den Tisch und brüllte: »PentaMeter, Greer! Denken Sie an Heimat-Basis! Ein Pentagon! Fünf Seiten! Penta! Penta! Jesses!«
Fünf Versfüße, dachte Langdon. Jeder Versfuß besaß per Definition zwei Silben. Er konnte nicht fassen, dass er in seiner gesamten beruflichen Laufbahn niemals die Verbindung hergestellt hatte. Der fünfhebige Jambus war ein symmetrisches Versmaß, das auf der Fünf und der Zwei basierte, heiligen Zahlen der Illuminati!
Das ist zu weit hergeholt, sagte sich Langdon und versuchte, den Gedanken zu verbannen. Ein bedeutungsloser Zufall, weiter nichts. Doch der Gedanke ließ sich nicht verbannen. Fünf. für Pythagoras und das Pentagramm. Zwei. für die Dualität aller Dinge.
Einen Augenblick später kam ihm ein weiterer bestürzender Einfall, und seine Knie wurden weich. Der fünfhebige Jambus wurde wegen seiner Einfachheit auch »reiner Vers« oder »reiner Meter« genannt. La lingua pura? Konnte das die reine Sprache sein, auf die sich die Illuminati bezogen hatten? The path of light is laid, the sacred lest...
»Oh«, sagte Vittoria.
Langdon wirbelte herum und sah, wie sie das Blatt auf den Kopf drehte. Er spürte, wie sich in seinem Magen ein Knoten bildete. Nicht schon wieder. »Das kann unmöglich ein Ambigramm sein!«
»Nein, ist es auch nicht. aber es. es ist.« Sie drehte das Blatt in Neunzig-Grad-Schritten weiter.
»Es ist was?«
Vittoria blickte auf. »Es ist nicht die einzige Zeile.«
»Es gibt noch eine?«
»Auf jedem Rand steht eine Zeile. Oben, unten, rechts und links. Ich glaube, es ist ein Poem.«
» Vier Zeilen?« Langdon zitterte vor Aufregung. Galileo war ein Poet? »Zeigen Sie her!«
Vittoria ließ nicht von der Seite ab. Sie drehte sie weiter, immer in Neunzig-Grad-Schritten. »Ich habe die Zeilen vorher nicht gesehen, weil sie in den Schnörkeln verborgen sind.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Hmmm. Wissen Sie was? Galileo
hat diese Zeilen nicht einmal selbst geschrieben!«
»Was?«
»Das Poem trägt die Unterschrift von John Milton.«
»John Milton?« Der einflussreiche englische Poet und Autor von Paradise Lost war ein Zeitgenosse Galileis gewesen - ein Gelehrter, den Konspirationstheoretiker ganz oben auf der Liste von Galileos Illuminati stehen hatten. Miltons angebliche Verbindungen zu Galileos Illuminati waren eine Legende, von der Langdon annahm, dass sie der Wahrheit entsprach. Nicht nur, dass Milton im Jahre 1638 eine schriftlich belegte Reise nach Rom unternommen hatte, um dort mit »erleuchteten Männern« zu sprechen - er hatte auch Galileo mehrere Male besucht, als der unter Hausarrest stand, Treffen, die in zahlreichen Gemälden aus der Renaissance festgehalten waren, einschließlich Annibale Gattis berühmtem Galileo et Milton, das heute in Florenz in den Uffizien hing.
»Milton kannte Galileo, oder?«, sagte Vittoria und schob Langdon endlich das Blatt hin. »Vielleicht hat er dieses Poem als Gunstbeweis geschrieben?«
Langdon biss auf die Zähne, als er den Bogen nahm. Er ließ ihn flach auf dem Tisch liegen und las die oberste Zeile. Dann drehte er ihn um neunzig Grad und las die Zeile auf dem linken Rand. Eine weitere Drehung, und er las die untere Zeile. Eine dritte vervollständigte den Kreis. Es waren insgesamt vier Zeilen. Die erste Zeile, die Vittoria entdeckt hatte, war die dritte Zeile des Poems. Mit offenem Mund las er die vier Zeilen erneut und im Uhrzeigersinn: oben, rechts, unten, links. Als er fertig war, atmete er tief durch. Es bestand nicht mehr der geringste Zweifel. »Sie haben es gefunden, Miss Vetra.«
Sie lächelte angespannt. »Gut. Können wir jetzt endlich von hier verschwinden?«
»Ich muss diese Zeilen zuerst abschreiben. Ich brauche einen Stift und Papier.«
Vittoria schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie’s, Professor. Wir haben keine Zeit, den Schriftgelehrten zu spielen. Mickey Mouse tickt.« Sie nahm ihm das Blatt aus der Hand und marschierte damit zur Tür.
Langdon stand auf. »Aber. Sie dürfen das nicht mit nach draußen nehmen! Es ist ein.«
Doch Vittoria war bereits draußen.
Kapitel 55.
Langdon und Vittoria platzten aus den Geheimarchiven hinaus auf den Hof. Die frische Luft wirkte wie eine Droge in Langdons Lungen. Die roten Flecken vor den Augen verschwanden rasch, die Schuldgefühle blieben. Er hatte soeben dabei geholfen, ein unschätzbares Relikt aus dem privatesten Archiv der Welt zu stehlen. Ich schenke Ihnen mein Vertrauen, hatte der Camerlengo gesagt.
»Beeilung!«, drängte Vittoria. Sie hielt das Blatt immer noch in der Hand und eilte im Laufschritt über die Via Borgia in Richtung von Olivettis Büro.
»Wenn auch nur ein Tropfen Wasser auf diesen Papyrus kommt.«
»Beruhigen Sie sich! Wenn wir dieses Ding erst entziffert haben, können wir ihr heiliges Blatt Papier ja wieder zurückgeben.«
Langdon beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten. Er war noch immer benommen von den fantastischen Implikationen ihrer Entdeckung. John Milton war ein Illuminatus. Er hat das Poem