- 258 auf Blatt Nummer fünf für Galileo geschrieben... verborgen vor den Augen des Vatikans. Als sie den Borgiahof verließen, hielt Vittoria ihm das Blatt entgegen. »Glauben Sie, dass Sie dieses Ding entziffern können? Oder haben wir gerade all unsere Hirnzellen nur des Nervenkitzels wegen zerstört?«
Langdon nahm das Dokument vorsichtig in die Hand. Ohne Zögern schob er es in eine der Brusttaschen seines Tweedjacketts, weg vom Sonnenlicht und der gefährlichen Feuchtigkeit. »Ich habe es bereits entziffert.«
Vittoria blieb wie angewurzelt stehen. »Sie haben was’?«
Langdon eilte weiter.
Vittoria rannte hinter ihm her. »Sie haben es nur ein einziges Mal gelesen! Ich dachte, es müsste etwas Schwieriges sein!«
Langdon wusste, dass sie Recht hatte, und doch war es ihm heim ersten Lesen wie Schuppen von den Augen gefallen. Eine einzige Strophe aus Jamben, und der erste Altar der Wissenschaft hatte sich in seiner ursprünglichen Schönheit enthüllt. Zugegeben, die Leichtigkeit, mit der er dieses Rätsel gelöst hatte, hinterließ eine nagende Unruhe in ihm. Er war ein Kind puritanischer Arbeitsethik. Er konnte noch immer seinen Vater hören, wie er den alten Leitspruch aus New England zitierte: Wenn es nicht verdammt schwer war, hast du etwas falsch gemacht. Hoffentlich traf das Sprichwort in diesem Fall nicht zu. »Ich habe es entziffert«, wiederholte er und ging noch schneller. »Ich weiß, wo der erste Mord geschehen soll. Wir müssen Olivetti warnen!«
Vittoria kam bei ihm an. »Wie können Sie das jetzt schon wissen? Zeigen Sie mir dieses Blatt noch einmal!« Mit der Fingerfertigkeit eines Taschendiebs schob sie die Hand in seine Brusttasche und zog das Pergament hervor.
»Vorsichtig!«, ‘warnte Langdon. »Sie können nicht einfach.«
Vittoria ignorierte ihn. Mit dem Blatt in der Hand trabte sie neben ihm her, hielt es ins Licht und untersuchte die Ränder. Während sie laut zu lesen anfing, machte Langdon eine Bewegung, um ihr das Blatt wieder abzunehmen, doch dann wurde er von ihrer akzentuierten Altstimme gefangen genommen, die die Silben in perfekter Betonung und im Rhythmus zu ihren Schritten wiedergab.
Einen Augenblick lang fühlte sich Langdon in der Zeit zurückversetzt. als sei er einer von Galileos Zeitgenossen; als hörte er das Poem zum ersten Mal und wüsste, dass es eine Prüfung war, eine Karte, ein Hinweis auf die vier Altäre der Wissenschaft. die vier Wegmarken, die einen geheimen Pfad quer durch Rom erhellten. Die Verse flössen über Vittorias Lippen wie ein Lied.
From Santi’s earthly tomb with demon’s hole ‘Cross Rome the mystic elements unfold. The path of light is laid, the sacred fest, Let angels guide you on your lofty quest.
Vittoria las die Zeilen zweimal hintereinander und verstummte dann, wie um die alten Worte auf sich einwirken zu lassen. From Santi’s earthly tomb, wiederholte Langdon in Gedanken. Das Poem war kristallklar. Der Weg der Erleuchtung begann bei Santis Grab. Von dort aus zeigten weitere Markierungen die Spur durch Rom:
Von Santis irdnem Grab in Dämons Loch, Durch Rom die myst’schen Urstoffe sich ziehn.
in etwa:
Von Santis irdnem Grab in Dämons Loch, Durch Rom die myst’schen Urstoffe sich ziehn. Der Lichtpfad ist gelegt, der heilge Test, Lass dich von Engeln führ’n auf luft’ger Quest“. (Anm. d. Übers.).
Mystische Urstoffe. Auch das war klar: Erde, Luft, Feuer und Wasser. Die Elemente der Wissenschaft, die vier Illuminati-Wegweiser, getarnt als religiöse Skulpturen.
»Der erste Hinweis«, sagte Vittoria. »Klingt ganz danach, als befände er sich bei Santis Grab.«
Langdon grinste. »Ich hab Ihnen doch gesagt, dass es nicht so schwierig ist.«
»Aber wer ist dieser Santi?«, fragte sie in plötzlicher
Aufregung. »Und wo ist sein Grab?«
Langdon lachte in sich hinein. Es war doch immer wieder erstaunlich, wie wenige Menschen Santi kannten, den Nachnamen eines der bedeutendsten Renaissance-Künstler. Sein Vorname war weltbekannt. das Wunderkind, das bereits im Alter von fünfundzwanzig Jahren für Papst Julius II. gearbeitet und der Welt nach seinem frühen Tod mit achtunddreißig Jahren die größte Sammlung von Fresken hinterlassen hatte, die es bis heute gab. Santi war in der Welt der Kunst ein Behemoth, und allein mit seinem Vornamen bekannt zu sein, war ein Ruhm, der nur wenigen jemals zuteil wurde, Menschen wie Napoleon, Galileo, Jesus. und natürlich den Halbgöttern von heute, die Langdon aus den Wohnheimen von Harvard entgegenschallten, Sting oder Madonna oder der »Artist formerly known as Prince«.
»Santi«, sagte Langdon, »ist der Nachname eines großen Meisters der Renaissance, auch bekannt als Raphael.«
Vittoria starrte ihn überrascht an. »Raphael? Etwa der Raphael?«
»Genau der.« Langdon eilte weiter in Richtung der Kaserne der Schweizergarde.
»Also fängt der Weg bei Raphaels Grab an?“
»Es ergibt Sinn, finden Sie nicht?«, sagte Langdon, während sie weitereilten. »Die Illuminati betrachteten große Künstler und Bildhauer als Brüder im Geiste. Kein Wunder, dass sie Raphaels Grab auswählten. Ein Tribut an die Kunst.« Langdon wusste, dass Raphael, genau wie viele andere religiöse Künstler, vermutlich insgeheim überzeugter Atheist gewesen war.
»Und wo ist nun das Grab von Raphael?« Vittoria schob das Blatt vorsichtig in Langdons Brusttasche zurück.
Langdon atmete tief durch. »Ob Sie’s glauben oder nicht -Raphael ist im Pantheon begraben.«
Vittoria blickte ihn zweifelnd an. »In dem Pantheon?«
»Genau in dem.« Zugegebenermaßen war auch Langdon überrascht, dass die Illuminati ausgerechnet das Pantheon als den Anfang ihres Weges der Erleuchtung ausgesucht hatten. Er hätte eher vermutet, dass der erste Altar der Wissenschaft in einer stillen, kleinen, abgelegenen Kirche stand. Das Pantheon, der gewaltige Kuppelbau mit dem großen runden Loch in der Mitte, war auch im siebzehnten Jahrhundert eines der berühmtesten Bauwerke in Rom gewesen.
»Ist das Pantheon überhaupt eine Kirche?«, fragte Vittoria.
»Die älteste katholische Kirche in ganz Rom.«
Vittoria schüttelte den Kopf. »Glauben Sie wirklich, dass der erste Kardinal im Pantheon ermordet werden soll? Es ist doch eine der touristisch meistbesuchten Stätten in Rom!«
Langdon zuckte die Schultern. »Die Illuminati haben gesagt, dass die ganze Welt ihnen zusehen soll. Ein Mord an einem Kardinal im Pantheon würde sicherlich einigen die Augen öffnen.«
»Aber wie kann dieser Assassine erwarten, jemanden im Pantheon zu ermorden und unerkannt zu entkommen? Das ist unmöglich!«
»Genauso unmöglich wie die Entführung von vier Kardinalen aus dem Vatikan, nehme ich an. Das Poem jedenfalls ist eindeutig.«
»Und Sie sind ganz sicher, dass dieser Raphael im Pantheon begraben ist?«
»Ich habe schon mehr als einmal an seinem Grab gestanden.«
Vittoria nickte, doch sie schien immer noch zu zweifeln. »Wie spät ist es?«
Langdon blickte auf seine Mickey-Mouse-Uhr. »Halb acht.«
»Ist es weit bist zum Pantheon?«
»Vielleicht anderthalb Kilometer. Wir haben also noch etwas
Zeit.«
»Das Poem sagt etwas von Santis irdnem Grab. Haben Sie dafür auch eine Erklärung?«
Langdon eilte über den weiten Hof. »Irden, ja. Offen gestanden gibt es wahrscheinlich keinen Ort in ganz Rom, der irdener wäre als das Pantheon. Der Name kommt von der alten Religion, für die das Pantheon erbaut wurde - es ist ein Tempel für alle Götter. Insbesondere die Götter von Mutter Erde.«
Als Student der Architektur hatte Langdon staunend erfahren, dass die Abmessungen der Haupthalle ein Tribut an Gaia waren, die Göttin der Erde. Die Form war so exakt berechnet, dass eine riesige Kugel hineinpasste, so genau, dass an den äußeren Rändern weniger als ein Millimeter Zwischenraum blieb.