»Ja«, unterbrach ihn Langdon. »Und Hadrian errichtete es l19 nach Christus neu.«
»Es war bis ins Jahr 1960 die weltgrößte freitragende Kuppelkonstruktion. Erst das Superdome in New Orleans war größer.«
Langdon stöhnte auf. Der Mann ließ sich nicht unterbrechen.
»Ein Theologe des fünften Jahrhunderts nannte das Pantheon das Haus des Teufels, und er glaubte, das Loch in der Kuppel sei der Eingang für Dämonen.«
Langdon hörte ihm nicht mehr zu. Er richtete den Blick nach oben, und das erste von Vittoria vorgeschlagene Szenario stieg vor seinem geistigen Auge auf. ein gpbrandmarkter Kardinal, der schreiend durch das Loch stürzte und auf dem Marmorboden aufschlug. Das wäre wirklich ein Ereignis, auf das die Medien sich stürzen würden. Unwillkürlich suchte er das Pantheon nach Reportern ab. Niemand zu sehen. Er atmete auf. Es war eine absurde Vorstellung. Die Logistik für ein derartiges Unternehmen wäre viel zu aufwändig.
Während Langdon seine Inspektion fortsetzte, folgte ihm der plappernde Führer wie ein nach Liebe hungernder Welpe. Erinnere mich daran, dachte Langdon, dass es nichts Schlimmeres gibt als einen Kunsthistoriker, der sich gerne reden hört.
Auf der anderen Seite des Saals war Vittoria in ihre eigene Suche vertieft. Zum ersten Mal, seit sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters erreicht hatte, stand niemand bei ihr, und sie spürte, wie die Realität der letzten acht Stunden auf sie eindrang. Ihr Vater war ermordet worden. grausam und ohne jede Warnung. Wenigstens genauso schmerzhaft war die Erkenntnis, dass jemand die Erfindung ihres Vaters gestohlen und sie zu einem Werkzeug für Terroristen umfunktioniert hatte. Vittoria wurde von Schuldgefühlen geplagt - der Gedanke, dass es ihre Erfindung war, die es den Dieben ermöglicht hatte, die
Antimaterie zu stehlen. ihr Behälter, der nun irgendwo im Vatikan stand und vor sich hin tickte. In ihren Bemühungen, ihrem Vater bei der Suche nach der reinen Wahrheit zu helfen, hatte sie sich zu einer Handlangerin des Terrors gemacht.
Eigenartigerweise war das Einzige, das Vittoria in ihrem Leben derzeit richtig erschien, die Gegenwart eines Fremden. Robert Langdon. Sie fand eine unerklärliche Zuflucht in seinen Augen. wie die Harmonie der Ozeane, die sie am Morgen hinter sich gelassen hatte. Sie war froh, dass er in ihrer Nähe war. Nicht nur, dass er sie mit Kraft und Hoffnung erfüllte, er besaß auch einen raschen Verstand und hatte diese eine Chance entdeckt, den Mörder ihres Vaters zu finden.
Vittoria atmete tief durch, als sie ihre Suche fortsetzte und sich entlang den Nischen des Pantheons bewegte. Sie wurde übermannt von dem unerwarteten Wunsch nach persönlicher Rache, der schon den ganzen Tag ihre Gedanken beherrschte. Auch wenn sie alles Leben liebte. sie wollte diesen Mörder tot sehen. Kein noch so gutes Karma würde sie an diesem Tag dazu bringen, auch die andere Wange hinzuhalten. Aufgeschreckt und fasziniert bemerkte sie, dass sich etwas in ihrem italienischen Blut regte, das sie noch nie zuvor gefühlt hatte. das Flüstern siziliani scher Vorfahren, die ihre Familien mit brutaler Selbstjustiz verteidigten. Vendetta, dachte Vittoria, und Zum ersten Mal im Leben verstand sie dieses Gefühl.
Visionen von Rache spornten sie an. Sie näherte sich dem Grab von Raphael Santi. Selbst auf einige Entfernung hin war zu erkennen, dass dieser Mann etwas Besonderes gewesen sein musste. Die Nische in der Wand, die den Sarkophag enthielt, war im Gegensatz zu den anderen durch eine Plexiglasscheibe geschützt. Durch die Scheibe hindurch war nur die Vorderseite des Sarkophags zu erkennen.
RAPHAEL SANTI, 1483-1520
Vittoria betrachtete das Grab; dann las sie die Plakette direkt
daneben.
Und las sie erneut.
Und ein drittes Mal.
Einen Augenblick später rannte sie entsetzt quer durch die Halle zu Langdon. »Robert! Robert!«
Kapitel 62.
Langdon wurde immer noch von dem Fremdenführer verfolgt, als er sich der letzten Nische auf seiner Seite näherte. Der Cicerone redete unermüdlich auf Robert ein.
»Die schienen diese Nischen wirklich zu mögen, Signore«, sagte er und strahlte. »Wussten Sie, dass die Vorsprünge und Vertiefungen der Grund dafür sind, dass die Decke so schwerelos erscheint?«
Langdon nickte ohne hinzuhören, während er misstrauisch in die Nische spähte. Plötzlich packte ihn jemand am Ärmel. Es war Vittoria. Sie zitterte vor Aufregung und zog ihn mit sich. Nach dem Schrecken auf ihrem Gesicht zu urteilen, musste sie eine Leiche gefunden haben. Langdon spürte, wie Furcht in ihm aufstieg.
»Ah, Ihre Frau!«, rief der Fremdenführer erfreut, offensichtlich beglückt durch die Tatsache, einen weiteren Zuhörer gefunden zu haben. Er deutete auf Vittorias kurze Hosen und Wanderstiefel. »Jetzt sehe ich, dass Sie beide Amerikaner sein müssen!«
Vittorias Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ich bin Italienerin.«
Das Lächeln auf dem Gesicht des Fremdenführers erstarb. »Ach du meine Güte.«
»Robert«, flüsterte Vittoria und wandte dem Cicerone den Rücken zu. »Galileos Diagramma! Zeigen Sie es mir, ich muss es sehen!«
»Diagramma?«, sagte der Führer und drängte sich neugierig heran. »Meine Güte, Sie beide kennen sich wirklich in Geschichte aus! Unglücklicherweise ist dieses einzigartige Dokument nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Es wird in
den Geheimarchiven des Vatikans aufbewahrt und.«
»Würden Sie uns bitte entschuldigen?«, verlangte Langdon, verwirrt wegen Vittorias Panik. Er zog sie zur Seite und griff in die Tasche, um das Blatt Nummer fünf vorsichtig herauszuziehen. »Was ist denn los?«
»Welches Datum hat dieses Werk?«, fragte sie, während sie das Blatt überflog.
Der Führer stand schon wieder bei ihnen und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf das Dokument. »Das ist nicht. das ist doch nicht wirklich.«
»Eine Reproduktion, für Touristen«, sagte Langdon schroff. »Danke sehr für Ihre Hilfe. Würden Sie meine Frau und mich nun für einen Augenblick entschuldigen?«
Der Führer wich ein paar Schritte zurück, ohne das Blatt aus den Augen zu lassen.
»Das Datum!«, drängte Vittoria. »Wann hat Galileo dieses Manuskript veröffentlicht.?«
Langdon deutete auf die römischen Ziffern in der untersten Zeile. »Das hier ist die Jahreszahl. Was ist denn los?«
Vittoria entzifferte die Zahl. »1639?«
»Ja. Stimmt was nicht?«
Ein Blick in ihre Augen ließ Langdon Düsteres ahnen.
»Wir sind in Schwierigkeiten, Robert. In großen Schwierigkeiten. Die Daten passen nicht zueinander.«
»Welche Daten passen nicht zueinander?«
»Raphaels Grab. Er wurde erst 1759 im Pantheon beigesetzt. Mehr als ein Jahrhundert nach der Veröffentlichung von Diagramma.«
Langdon starrte sie an, während er versuchte, das eben Gesagte zu begreifen. »Nein«, sagte er schließlich. »Das kann nicht sein. Raphael starb 1520, lange vor Galileos Diagramma.« »Das stimmt. Aber er wurde erst mehr als zwei Jahrhunderte später hier im Pantheon beigesetzt. Es war eine Art historischer Tribut an bedeutende Italiener.«
Die Erkenntnis kam langsam, und mit einem Mal fühlte sich Langdon, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.
»Als dieses Gedicht geschrieben wurde«, fuhr Vittoria fort, »war Raphael noch irgendwo anders begraben. Damals stand das Pantheon noch in überhaupt keiner Verbindung mit Raphael!«
Langdon stockte der Atem. »Aber. aber das. das würde bedeuten.«
»Genau! Wir sind am falschen Ort!«