Langdon schwankte. Das ist unmöglich. Ich war sicher.
Vittoria rannte zu dem Fremdenführer und zerrte ihn herbei. »Signore, bitte entschuldigen Sie. Wo lagen Raphaels sterbliche Überreste im siebzehnten Jahrhundert?«
»In Urb. Urbino«, stammelte der Führer befremdet. »In seinem Geburtsort.«
»Unmöglich!« Langdon fluchte in sich hinein. »Die Illuminati-Altäre der Wissenschaft befanden sich hier in Rom, da bin ich absolut sicher!«
»Illuminati?« Der Fremdenführer ächzte erschrocken und starrte erneut auf das Dokument in Langdons Hand. »Wer sind Sie?«
Vittoria antwortete an Langdons Stelle. »Wir suchen nach etwas, das sich>Santis irdenes Grabcnennt. Hier in Rom. Können Sie uns sagen, worum es sich dabei handelt?«
Der Führer blickte sie verunsichert an. »Das hier ist Raphaels einziges Grab in Rom.«
Langdon versuchte nachzudenken, doch sein Verstand weigerte sich. Wenn Raphaels Grab 1655 noch nicht in Rom gewesen war - auf was bezog sich dann Miltons Gedicht? Santi’s earthly tomb with demon’s hole? Was, zur Hölle, ist das? Denk nach, Mann!
»Gab es noch einen anderen Künstler mit Namen Santi?«, fragte Vittoria.
Der Fremdenführer zuckte die Schultern. »Nicht dass ich wüsste.«
»Was ist mit anderen berühmten Persönlichkeiten? Vielleicht ein Wissenschaftler oder ein Dichter oder ein Astronom namens Santi?«
Der Führer sah aus, als würde er am liebsten weglaufen. »Nein, Signora. Der einzige Santi, von dem ich je gehört habe, ist Raphael, der Baumeister.«
»Baumeister?«, fragte Vittoria. »Ich dachte, er wäre Maler gewesen?«
»Er war beides, Signora. Wie all die anderen Großen auch. Michelangelo, Leonardo, Raphael.«
Ob es nun an den Worten des Fremdenführers lag oder an den kunstvollen Sarkophagen ringsum - mit einem Mal dämmerte es Langdon. Santi war Baumeister. Nun fielen die Fakten wie Puzzlesteine an ihren Platz. Die Baumeister der Renaissance hatten nur zwei Ziele im Leben gehabt - Gott mit möglichst großen Kirchen zu verehren und weltliche Würdenträger in möglichst prachtvollen Gräbern zu bestatten. Santis irdnes Grab. Könnte es das sein...? Immer schneller kreisten Langdons Gedanken.
Da Vincis Mona Lisa.
Monets Wasserlilien.
Michelangelos David.
Santis irdnes Grab...
»Santi hat das Grab entworfen«, sagte Langdon unvermittelt.
Vittoria wirbelte zu ihm herum. »Was?«
»Das Poem. Es ist kein Hinweis auf Raphaels Begräbnisstätte, sondern auf ein Grab, das von Raphael Santi erbaut wurde!«
»Wovon reden Sie?«
»Ich habe die Zeile falsch interpretiert. Wir suchen nicht nach Raphaels Grab, sondern nach einem Grab, das er für jemand anderen erbaut hat! Ich kann nicht glauben, dass ich so blind sein konnte! Die Hälfte aller Kunstwerke in der Renaissance und im barocken Rom wurde für Begräbnisstätten angefertigt!« Langdon lächelte verlegen. »Raphael muss Hunderte von Grabmälern erschaffen haben!«
Vittoria sah gar nicht glücklich drein. »Hunderte? Waren darunter irgendwelche irdenen Grabstätten, Professor?«
Langdon fühlte sich plötzlich überfordert. Er wusste erschreckend wenig über Raphaels Arbeiten. Bei Michelangelo hätte er mehr sagen können, doch Raphael hatte ihn nie sonderlich interessiert. Er kannte zwar die Namen von einigen seiner berühmtesten Gräber, doch er wusste nicht einmal, wie sie aussahen.
Vittoria spürte offensichtlich, was in hm vorging, denn sie wandte sich an den Fremdenführer, der sich unauffällig davonzustehlen versuchte. Sie packte ihn am Arm und zerrte ihn herbei. »Wir suchen ein Grab. Ein Grab, das von Raphael geschaffen wurde. Ein Grab, das man als irden bezeichnen könnte.«
Der Führer war einer Panik nahe. »Ein Grab von Raphael? Ich weiß nicht! Er hat so viele geschaffen! Wahrscheinlich meinen Sie ein Bethaus, eine Kapelle, kein Grab. Die Baumeister der Renaissance haben stets Bethäuser über den Gräbern errichtet.«
Der Mann hat Recht, erkannte Langdon.
»Was denn nun, gibt es Gräber oder Kapellen von Raphael, die man als irden bezeichnen könnte?«
Der Führer zuckte die Schultern. »Es tut mir Leid, aber ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen! Der Ausdruck irden passt auf nichts, das mir bekannt wäre. Ich glaube, ich sollte jetzt lieber gehen.«
Vittoria hielt ihn fest und las die entsprechende Zeile aus Miltons Gedicht vor. »From Santi’s earthly tomb with demon’s hole... sagt Ihnen das etwas?«
»Nicht das Geringste.«
Langdon blickte unvermittelt auf. Er hatte den zweiten Teil fast vergessen, doch jetzt fiel es ihm wieder ein. Demon’s hole! Das ist es! »Das ist es!«, sagte er zu dem Fremdenführer. »Gibt es eine Kapelle von Raphael mit einem Oculus?«
Der Führer schüttelte den Kopf. »Meines Wissens ist das Pantheon einzigartig.« Er zögerte. »Aber.«
»Aber was?«, fragten Langdon und Vittoria unisono.
Jetzt neigte der Führer den Kopf und kam ihnen einen Schritt entgegen. »Demon’s hole, sagen Sie?« Er murmelte etwas vor sich hin und fragte dann laut: »Das wäre ein. ein buco diavolo’?«
Vittoria nickte. »Wörtlich übersetzt, ja.«
Der Führer lächelte schwach. »Das ist ein Ausdruck, den ich schon eine ganze Weile nicht mehr gehört habe, wissen Sie. Wenn ich mich nicht irre, bedeutet er so etwas wie Krypta.«
»Eine Krypta?«, fragte Langdon überrascht.
»Ja, jedenfalls so etwas Ähnliches. Ich glaube, buco diavolo ist ein alter Begriff für eine große Begräbnishöhle unter einer Kapelle. unter einem anderen Grab.«
»Sie meinen eine Art Ossuarium?«, fragte Langdon, der augenblicklich erkannte, was der Führer zu beschreiben versuchte.
»Ja! Das ist der Ausdruck!« Der Fremdenführer war beeindruckt. »Das ist der Ausdruck, der mir nicht einfallen wollte.«
Langdon dachte darüber nach. Ossuarien stellten eine preiswerte Möglichkeit dar, ein peinliches Dilemma zu beheben. Eine Kirche, die ihre wichtigsten und ehrenwertesten Gemeindemitglieder mit einem Grab im Innern des Gotteshauses ehrte, sah sich häufig den Forderungen der überlebenden Familienangehörigen ausgesetzt, dass die Familie gemeinsam bestattet werden sollte. Auf diese Weise sicherten sie sich einen der begehrten Plätze im Innern der Kirche. Falls die Kirche jedoch nicht genügend Platz oder Geld besaß, um Gräber für eine ganze Familie zur Verfügung zu stellen, behalf sie sich mit einem Ossuarium - einem Loch im Boden des Gotteshauses, unter oder neben dem Grab des Verstorbenen, wo die weniger bedeutenden Angehörigen beigesetzt wurden. Das Loch wurde anschließend mit einem Deckel verschlossen - eine bequeme Methode, die jedoch bald wieder aus der Mode gekommen war, hauptsächlich wegen des Gestanks, der sich häufig in der darüber stehenden Kirche ausgebreitet hatte. Buco diavolo, dachte Langdon. Er hatte den Ausdruck noch nie gehört, doch er war auf schauerliche Weise passend.
Langdons Herz hatte heftig zu pochen angefangen. From Santi’s earthly tomb with demon’s hole. Nur eine Frage schien noch offen: »Hat Raphael Gräber erschaffen, die mit
Dämonenlöchern ausgestattet sind?«
Der Führer kratzte sich am Kopf. »Offen gestanden. mir fällt nur eins ein.«
Nur eins? Eine bessere Antwort hätte sich Langdon nicht zu erträumen gewagt.
»Und wo befindet sich dieses Grab?« Vittoria rief es beinahe.
Der Führer blickte sie etwas merkwürdig an. »Es ist die Chigi-Kapelle. Das Grab von Agostino Chigi und seinem Bruder, zwei wohlhabenden Förderern von Kunst und Wissenschaft.«