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Alberto Vázquez-Figueroa

Ikarus 

Autor

Alberto Vázquez-Figueroa wurde 1936 in Santa Cruz de Tenerife geboren. Seine Familie musste Spanien aus politischen Gründen verlassen. Er wuchs in Marokko und — als seine Familie sich den Tuareg anschloss — in der Sahara auf. Alberto Vázquez-Figueroa arbeitete als Journalist und Reporter, bevor ihm mit seinem ersten Roman Tuareg der internationale Durchbruch als Schriftsteller gelang.

IKARUS 

All Williams, John McCracken, Jimmie, Virginia und Mary Angel, Dick Curry, Félix Cardona, Gustavo »Cabullas«, Henry und Miguel Delgado haben tatsächlich existiert. Dieser Roman will Teil ihrer schier unglaublichen Geschichte sein.

Erster Teil

Ein Schwarm von roten Ibissen erhob sich in die Luft, wie lodernde Flammen, die über den grünen Mantel des Dschungels leckten.

Sie zogen nach Norden.

Im gleichen Augenblick kam ihnen von Osten eine Reihe träger weißer Fischreiher entgegen.

Die Ibisse flogen über die Reiher hinweg, deren lange Beine beinahe die Wipfel der Bäume streiften.

Ein strahlendes Mosaik von Grün, Rot, Weiß, Gelb und dem Purpurrot blühender Orchideen breitete sich unter dem indigoblauen Himmel aus, an dem nicht die Spur einer Wolke zu sehen war.

Nicht der Schatten eines Falken oder Adlers.

Nicht einmal ein schwarzer Geier.

Friede.

Friede am Himmel, über dem Dschungel und auf dem spiegelglatten Wasser des breiten, träge sich dahinschlängelnden Flusses, der offenbar nichts anderes im Sinn hatte, als den vorbeiziehenden Reihern und Ibissen silbrig funkelnd zuzublinzeln.

Licht, Stille und ein Meer von Farben in hundert Metern Höhe.

Doch da, wo sich das undurchdringliche Laub der Bäume den gleißenden Sonnenstrahlen entgegenstellte und diese mühsam darum kämpften, sich einen Weg bis zum Boden zu bahnen, offenbarte sich die Kehrseite der Medaille. Mit jedem Meter verlor das Licht an Kraft und die Farben erstickten in einer trüben, undurchlässigen Dämmerung. Hier unten am Boden war die vermeintliche Ruhe nur eine trügerische Maskerade, hinter der sich Tod und Gewalt verbargen.

Auf dem schmutzig dunklen Braun des Dschungelbodens, wo verwesende Blätter und herabgefallene Früchte mit Hilfe der Zeit und des ewigen Regens eine morastige Schicht gebildet hatten, leuchtete einen kurzen Augenblick lang etwas auf. Eine giftige rotschwarz geringelte Korallenschlange glitt lautlos über den Boden und verschwand eine Sekunde später in einer feuchten Höhle unter einem verfaulten Baumstamm, der vermutlich schon vor langer Zeit umgestürzt war.

Ein Tukan beobachtete sie aufmerksam, ohne den Kopf zu bewegen.

Ein rotbärtiger Brüllaffe turnte ruhelos auf einem Baum auf und ab.

Ein Faultier bewegte die kräftigen Krallen, mit denen es einen Ast umklammerte, geduldig einige Millimeter weiter auf dem Weg zum fernen Wipfel seines Araguaney.

Jetzt tauchten am Horizont die ersten Wolken auf.

Mit ihnen kam der Regen.

Und der ewige Gesang des Dschungels, ein unaufhörliches Trommeln von Abermillionen dicker Regentropfen, die auf ein Blatt prasseln, an ihm herabfließen, ins Leere stürzen, auf ein neues Blatt fallen, wieder herabfließen, tiefer fallen und so weiter, fünfzig oder sechzig Meter hinab und auf ihrem Weg zum morastigen Boden unzählige Male unterbrochen.

Für sich genommen wäre jeder einzelne Tropfen so gut wie lautlos; gemeinsam aber bildeten sie eine ohrenbetäubende Symphonie, die Mensch und Tier im Dschungel gleichermaßen zur Verzweiflung trieb.

In der Ferne donnerte es.

Helle Blitze rissen den Himmel auf.

Plötzlich knickte einer der unzähligen Urwaldriesen wie ein Streichholz um. Ein ganzes Jahrhundert hatte er gebraucht, um in den Himmel zu wachsen, und nun wurde er im Bruchteil von Sekunden gefällt.

Wasser.

Wasser.

Und noch mehr Wasser.

Im Fluss.

Auf dem schlammigen Boden.

In der Luft.

Wasser auf der Haut, auf dem Fleisch und in den Knochen.

Plötzlich das Geräusch von nackten Füßen, die durch die trüben Pfützen patschten, und von abgebrochenen Zweigen. Vögel flatterten aufgeschreckt in die Lüfte. Schließlich tauchte hinter einem dicken Mimosenbaum ein Mann auf, keuchend und völlig durchnässt. Er fluchte leise und holte so tief Luft, dass seine Lungen schmerzten.

Bis auf die Knochen war er ausgemergelt, hatte schwarze Ringe unter den Augen und eitrige Wunden an den Waden. Er sah aus wie eine in zerfetzten Lumpen wandelnde Leiche. Man hätte meinen können, dass er sich bis ans Ende des Dschungels vorgekämpft hatte, nur um hier zusammenzubrechen und zu sterben.

Doch so weit war es noch nicht.

Er lehnte sich an den Mimosenbaum, ruhte sich einen Augenblick aus und warf einen Blick nach oben, als suchte er nach einem Orientierungspunkt in einer Gegend, in der es keine Orientierung geben konnte, weil man sie sofort wieder verlor.

Ein Baum, ein Zweig glich dem anderen.

Ein Blatt war wie Abermillionen anderer.

Jeder Lichtstrahl, der vom Himmel fiel, glich dem vorigen und dieser dem nächsten.

Die Eintönigkeit des Dschungels übertraf noch die der Wüste und gelegentlich sogar die des Meeres.

Sie verwirrte die Menschen und raubte ihnen den Verstand.

Sie forderte mehr Opfer als Schlangen, Spinnen und Jaguare zusammen.

Dieser Mann aber, der nur noch ein jämmerlicher Schatten seines früheren Ich war, musterte seine Umgebung mit der ruhigen Gelassenheit eines Menschen, der auf jahrelange Erfahrung zurückblicken kann. Schließlich hob er den Arm und schlug knapp über seinem Kopf mit einer Machete, deren Klinge vom vielen Schleifen fast schon abgewetzt war, eine Kerbe in den Baum.

Dann setzte er seinen Marsch fort.

Furchtlos und ohne Eile kämpfte er sich mit dem bedächtigen Schritt eines Menschen voran, der in seinem Leben bereits unzählige ähnliche Wege gegangen ist, bis er schließlich für seine unermüdliche Ausdauer belohnt wurde. Eine halbe Stunde später öffnete sich die undurchdringliche Dschungelwand vor ihm wie der luxuriöse Vorhang eines riesigen Theaters und gab den Blick auf ein Spektakel frei, das kein weißer Mann je zuvor gesehen hatte.

Mit offenem Mund setzte er sich auf einen kräftigen Ast, fuhr sich mehrmals mit der Hand über die Glatze, blinzelte ungläubig und murmelte leise vor sich hin. Fast eine geschlagene Stunde lang saß er da wie hypnotisiert und wollte nicht glauben, dass dies kein Traum war.

Denn das, was er sah, übertraf selbst den verrücktesten Traum.

»Es ist wahr«, murmelte er. »Es ist wirklich wahr! Der Vater aller Flüsse entspringt tatsächlich im Himmel!«

Schließlich stand er auf und ging denselben Weg zurück, den er gekommen war.

Jetzt aber schien er es eilig zu haben, denn die Schatten des Dschungels wurden dichter und kündigten die herannahende Nacht an.

Auf den letzten Metern stolperte er immer häufiger, fiel unzählige Male hin und rappelte sich doch immer wieder auf. Keuchend und fluchend gelangte er schließlich noch vor Anbruch der Dunkelheit zum Ufer eines schmalen Flusses. Dort ließ er sich neben ein morsches Holzkanu fallen. Am Bug lag ein gleichermaßen ausgemergelter Mann. Seine Stimme klang so brüchig, als käme sie aus einem Sarg.

»Was ist los mit dir? Man könnte meinen, du wärst dem Leibhaftigen persönlich über den Weg gelaufen.«

Der Kahlköpfige war so erschöpft, dass er eine Weile brauchte, um seine letzten Kräfte zu sammeln, bevor er mit heiserer Stimme antworten konnte: