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»Da ist er!«, hörte er ihn schreien. »Da ist er, der Orinoco!«

»Der Orinoco!«

Ein klangvoller Name für einen klangvollen Fluss.

Ein Fluss mit geheimnisvollen Ursprüngen, von dem es hieß, dass er zu bestimmten Jahreszeiten die Ufer überflutet und sich durch einen gemeinsamen Nebenfluss namens Casiquiare mit den Wassermassen des Amazonas vereint. Ihre gewaltigen Überschwemmungen verwandelten den Nordwesten des Kontinents über Monate hinweg in eine merkwürdige Insel. Um zu ihr zu gelangen, musste man durch hüfthohes Wasser waten.

Dort in weiter Ferne mussten die ersten Gebirgsausläufer des Berglandes von Guayana liegen. Sie ahnten es mehr, als dass sie es sahen, hatten jedoch kaum Zeit, darauf zu achten, da Jimmie im gleichen Augenblick den Landeanflug begann und neben ein paar Lehmhütten mit Strohdächern aufsetzte, genau an der Stelle, wo der Orinoco und der Meta ineinander flossen.

Puerto Carreño war so menschenleer, dass es einer Geisterstadt glich. Keine Spur von einem Hafen, geschweige denn Bewohnern.

Die kleinen Boote, die gelegentlich auf dem riesigen Strom oder seinem schlammigen Nebenfluss auftauchten, lagen am breiten Schlammufer, unmittelbar neben den Grundmauern einiger schmutziger Häuser, die eine Art Kreis bildeten. In seiner Mitte stand ein Gebäude aus rötlichem Stein, über dem eine ausgebleichte kolumbianische Fahne wehte.

Auf der anderen Seite dieser natürlichen Grenze, in Puerto Páez, erblickte man ähnliche Behausungen, über denen die ebenfalls verblichene venezolanische Flagge flatterte.

Die paar Dutzend Bewohner von Puerto Carreño waren panikartig in ihre Häuser gelaufen, als sie sahen, wie die alte Maschine am Horizont auftauchte, ein paarmal über dem Dorf kreiste und schließlich auf dem weitläufigen Platz hinter ihren Häusern landete. Ihre Verstörung war so groß, dass sie mehr als zehn Minuten brauchten, um sich von ihrem Schrecken zu erholen. Nur zögernd kamen sie aus ihren Behausungen und näherten sich dem bedrohlichen Doppeldecker, aus dem zwei Männer gestiegen waren, die bis zum Hals in pelzgefütterten Lederanzügen steckten, sodass der Schweiß ihnen in Strömen hinunterlief.

Wie durch Zauberhand war mit einem Schlag das ganze Dorf ins zwanzigste Jahrhundert katapultiert worden.

Der Kommandant des Grenzpostens, ein dünner Blonder mit winziger Nickelbrille, der sich später als Evilasio Morales vorstellen sollte, hatte sich als Erster aus dem Haus getraut und sich der Maschine bis auf zwanzig Meter genähert. Dort war er stehen geblieben und hatte mit einstudierter Autorität gerufen:

»Wer sind Sie und woher kommen Sie?«

»Wir sind friedliche Bürger und kommen aus Bogotá«, antwortete Jimmie und ging langsam auf ihn zu. Dabei wedelte er mit einem Stück Papier, das er zuvor aus der Innentasche seines ledernen Fliegeranzugs gezogen hatte. »Hier ist die Fluggenehmigung des Innenministeriums, die uns erlaubt, den kolumbianischen Luftraum zu benutzen, um nach NiederländischGuayana zu gelangen.«

»Den was zu benutzen?«, fragte der andere und nahm die Urkunde vorsichtig entgegen, als könnte er sich die Hand daran verbrennen.

»Ihren Luftraum«, wiederholte der Amerikaner und betonte jede Silbe.

»Was bedeutet das?«

»Die Luft da oben. Es bedeutet, dass wir Ihre Luft benutzen dürfen.«

»Liebe Güte! Heißt das, dass man heutzutage eine Genehmigung braucht, um die Luft zu benutzen…?«, fragte Morales und deutete dann auf die Maschine. »Ist das eine Fairey III?«

Der Pilot schüttelte grinsend den Kopf.

»Eine Bristol Piper, aber sie hat gewisse Ähnlichkeit mit einer Fairey. Verstehen Sie etwas von Flugzeugen?«

»Nur das, was ich aus den Zeitungen weiß. Darf ich sie mir mal aus der Nähe ansehen?«

»Aber klar doch!«

Evilasio Morales, genannt El Catire, war der einzige Bewohner in dem kleinen Dorf, der einigermaßen fließend schreiben und lesen konnte und stolzer Besitzer einer Bibliothek war, die an die zwanzig Bücher und Berge von alten Zeitungen und kuriosen Publikationen aller Art umfasste. Daher dauerte es nicht lange, bis er die beiden Ankömmlinge unter seine Fittiche genommen hatte, wusste er doch, dass dieses bedeutsame Ereignis in die Annalen des ehrenwerten Dorfes Puerto Carreño eingehen würde.

»Mein Vater hat mir oft erzählt, wie er zum ersten Mal ein Auto sah«, erzählte er ihnen. »Jetzt werde ich meinen Kindern erzählen können, wie ich zum ersten Mal ein Flugzeug gesehen habe. Womit kann ich Ihnen behilflich sein, meine Herren?«

»Als Erstes bräuchten wir dringend Sprit. Können Sie welchen besorgen?«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Und dann brauchten wir die Genehmigung der venezolanischen Behörden, Ihr Land zu überfliegen.«

»Das Erste geht klar«, erklärte der Kolumbianer selbstsicher. »Mein Kumpel in Puerto Ayacucho wird sich darum kümmern. Aber was das Zweite angeht, das hängt nicht von mir ab, sondern von Ciro Cifuentes. Und bei dem weiß man nie, woran man ist. Er ist verrückter als eine Schildkröte, die der Panzer juckt.«

»Wer ist dieser Cifuentes?«

»Der Kommandant in Puerto Páez. Ein bekloppter Schwarzer. Wenn er zweimal hintereinander beim Domino verliert, bringt er es fertig, einen Grenzzwischenfall zu inszenieren!«

»Dann lassen Sie ihn doch hin und wieder gewinnen«, erklärte McCracken auf seine naive Art.

Sein Gegenüber nahm schroff die zerkratzte Brille ab und putzte sie so ingrimmig, als versuchte er mit aller Macht, einen Wutausbruch zu unterdrücken. Schließlich fragte er zähneknirschend: »Sie spielen kein Domino, stimmt’s?«

Als der Schotte wortlos den Kopf schüttelte, fuhr er im gleichen Tonfall fort: »Wenn Sie es täten, dann wüssten Sie, dass man eher einen Grenzzwischenfall oder sogar einen richtigen Krieg riskiert, als ein Dominospiel zu verlieren, vor allem gegen einen widerlichen und eingebildeten Hundesohn wie Cifuentes.«

Das war Ciro Cifuentes in der Tat: ein abstoßender, arroganter Fatzke, der den Mund nicht mehr zukriegte, als sein alter Rivale ihm die imponierende Maschine vorführte, so stolz, als wäre sie seine eigene.

»Verdammt noch mal, Compadre!«, rief er voller Bewunderung. »Mit der Kiste könnten wir den Banditen und Wilden ganz schön einheizen!«

Trotzdem konnte er sich partout nicht mit der Idee anfreunden, ihnen die Überflugrechte für »sein« Territorium zu erteilen. So hartnäckig weigerte er sich, dass der Schotte ihn irgendwann freundlich beiseite nahm und zum Flussufer führte. Dort stopfte er ihm ein Bündel Geldscheine in die Brusttasche und erklärte ihm, dass sie nur über venezolanisches Gebiet nach NiederländischGuayana gelangen konnten.

»Drei Tage!«, ließ er sich schließlich erweichen. »Ich erteile Ihnen die Genehmigung, aber nur für drei Tage. Danach muss ich meine Vorgesetzten informieren.«

»Das genügt vollkommen«, antwortete McCracken gelassen.

Jimmie machte sich unverzüglich an die Arbeit. Er verbrachte Stunden damit, den Motor der alten Maschine auseinander zu nehmen, die einzelnen Teile zu reinigen und zu überprüfen und sie dann wieder zusammenzusetzen. Als er schließlich mit seiner Arbeit zufrieden war, stopfte er sich seine Pfeife und zeigte bedeutsam auf die dunklen Gebirgsausläufer in der Ferne, die sich undeutlich am westlichen Himmel abzeichneten.

»Haben Sie eigentlich schon mal darüber nachgedacht, dass wir diese Berge dort drüben so gut wie gar nicht kennen und nicht einmal wissen, wo wir eventuell landen könnten?«

»Natürlich.«

»Macht Ihnen das keine Sorgen?«

»Mit Ihnen als Pilot nicht.«

»Ihre Zuversicht möchte ich haben«, erklärte Jimmie mit ehrlicher Bewunderung. »Mag sein, dass ich ein guter Pilot bin, aber ich kann mich trotzdem nicht ewig in der Luft halten.« Er strich sich mit dem Zeigefinger bedeutungsvoll über den Hals. »Und wenn der Sprit zu Ende ist, dann war’s das!«