»Ich hätte mich auch verdrückt.«
»Sehen Sie! Und jetzt lassen Sie uns in aller Ruhe abwarten und hoffen, dass das Wasser nur um ein paar Meter steigt.«
Der herannahende Abend brachte neue Gewitterwolken von Osten. Am Horizont zuckten helle Blitze über den Himmel, denen laute Donnerschläge wie ergebene Diener folgten. Die beeindruckende Farbenpracht des Dschungels, der die Flussufer säumte, verwandelte sich in eine graue Masse, die sich kaum von dem noch dunkleren, verhangenen Himmel unterschied.
Die Gran Sabana zeigte sich von ihrer traurigsten und trostlosesten Seite.
Die Tepuis am Horizont waren von den riesigen Wattewolken ausradiert worden.
Die weißen Reiher und roten Ibisse schliefen zwischen Jasmin und Seerosen.
Einzig die schwarzen Enten flogen so knapp über der Wasseroberfläche entlang, dass ihre Flügel sie streiften, und tauchten sogar hin und wieder mit vollendeter Eleganz ganz hinein.
Plötzlich senkte sich die Nacht herab, eilig, als müsse sie die letzten trägen Strahlen der Sonne verscheuchen und könne es nicht erwarten, die Kontrolle zu übernehmen.
In der Ferne brüllte der erste Jaguar.
Die Wellen leckten bereits am Fahrwerk des alten Doppeldeckers.
Dann hüllte die Dunkelheit sie ein.
Es gab keinen Dschungel mehr, keinen Fluss, kein Flugzeug, nicht einmal Menschen, die ihr Schicksal erwarteten.
Es gab nur noch Dunkelheit und einen leichten Regen, der sein immer gleiches Lied sang.
Die Männer saßen schweigend und nachdenklich da.
Schließlich meinte der eine: »Ich habe das Gefühl, der Fluss schwillt immer mehr an.«
»Ja, Sie haben Recht. Das Wasser steigt. Ich glaube, wir sollten uns lieber in die Maschine setzen.«
Gesagt, getan, doch schon nach kurzer Zeit mussten sie einsehen, dass sie auch im Flugzeug angesichts der Gefahr, jeden Augenblick von den Fluten fortgerissen zu werden, kein Auge zutun konnten.
Kein einziger Stern am Himmel.
Kein Mondschein.
Nur tief hängende Wolken.
Es verging eine Stunde, dann fragte McCracken, als hätte er sich die ganze Zeit darüber den Kopf zerbrochen:
»Was werden Sie eigentlich machen, wenn Sie eines Tages heiraten? Meinen Sie, eine Frau würde ein solches Leben ertragen?«
»Wohl kaum«, kam es aus der Dunkelheit. »Aber ich glaube nicht, dass ich jemals heiraten werde.«
»Warum nicht?«
»Weil ich seit Jahren in eine Frau verliebt bin, von der ich so gut wie nichts weiß.«
»Wie meinen Sie das?«
»So, wie ich es sage. Dass ich nichts von ihr weiß.« Der König der Lüfte schwieg eine Weile und setzte dann in einem seltsamen Ton hinzu: »Ich habe nie erfahren, wie sie heißt, wo sie lebt, welche Staatsangehörigkeit sie hat, nicht einmal, ob sie hübsch, hässlich, blond oder schwarzhaarig ist.«
»Sie nehmen mich auf den Arm!«, wandte der Schotte ein.
»Aber nein!«, erwiderte sein unsichtbarer Gesprächspartner. »Jede Nacht träume ich von dieser Frau. Jeden Tag sehne ich mich nach ihr. Wirklich, ich würde mein Leben geben, um eine Stunde mit ihr verbringen zu dürfen. Und trotzdem habe ich nicht die leiseste Ahnung, wie sie aussieht oder wer sie ist.«
»Das müssen Sie mir näher erklären, wenn ich bitten darf.«
Es folgte ein langes Schweigen. Jimmie wog sorgfältig ab, ob er McCracken seine Lebensgeschichte erzählen sollte oder nicht, bis er sich endlich einen Ruck gab.
»Was soll’s!«, rief er. »Schließlich ist es eine ganz besondere Nacht, nicht wahr?« Er schien tief Luft zu holen und begann zu erzählen. »Es geschah vor vier Jahren. Die Deutschen hatten eine gewaltige Offensive gestartet und das Oberkommando beschloss, lieber die Maschinen zu opfern und die Piloten in Sicherheit zu bringen. Wir wurden in einen Sanitätslaster gestopft, der uns hinter die Frontlinie fahren sollte. Er war so voll gepackt mit Verwundeten und Krankenschwestern, dass sich eine von ihnen auf meinen Schoß setzen musste. Es war tiefe Nacht und ich konnte weder ihr Gesicht sehen noch ihre Stimme hören. Ich weiß nur, dass sie einen wunderschönen Körper hatte…«
Der König der Lüfte verstummte und eine Zeit lang schien es, als wollte er die Vergangenheit nur für sich wieder aufleben lassen. Am Ende fuhr er fort:
»Die Straße war nicht asphaltiert und voller Schlaglöcher. Rechts und links fielen die Granaten. Im stickigen Innern des Lasters herrschte die nackte Angst. Es roch nach Schweiß und Tod. Trotzdem spürte ich nach einer Weile, wie mich der straffe Hintern der Frau, der durch die Holperei auf meinem Schoß auf- und absprang, erregte. Ich merkte, dass auch sie erregt war. Ich berührte zaghaft ihre Brust. Sie schob den Rock hoch und dann drang ich in sie ein. Es war himmlisch! Sie wurde immer wilder. Ihr unterdrücktes Stöhnen vermischte sich mit den Klagen der Verwundeten und den Angstschreien ringsumher. Ich spürte eine warme Flüssigkeit auf meinem Schenkel. Der Laster hörte nicht auf zu holpern. Ich versuchte, mich zurückzuhalten, weil die Lust, die ich ihr schenkte, mir selbst so viel Befriedigung verschaffte, dass ich mich völlig vergaß.«
Wieder Schweigen. Der Pilot atmete schwer. Sein Passagier schloss die Augen, um sich die Situation besser vorstellen zu können.
»Fast eine Stunde dauerte es…«, schloss der Amerikaner endlich. »Wissen Sie, was das heißt? Eine himmlische endlose Stunde, in der ich mich im Paradies glaubte, während um uns herum die Bomben einschlugen und die Verwundeten schrien. Am Ende waren wir wie gelähmt und blieben einfach so sitzen. Sie stöhnte noch leise, als plötzlich die Tür aufging und wir Piloten aussteigen mussten.«
»Verdammt!«
»Genau das habe ich mir auch gesagt. Verdammt! Der Sanitätslaster verlor sich in der Nacht und ich stand neben einem Baum und sah zu, wie die Frau meines Lebens in der Dunkelheit verschwand.«
»Und Sie haben niemals erfahren, wer sie war?«
»Nein, nie. Nach Kriegsende habe ich sie gesucht, aber an der Schlacht hatten englische, französische, amerikanische und sogar australische Einheiten teilgenommen. Gott weiß, wo sie sich jetzt aufhält.«
Der Schotte nickte. »Eine wunderschöne Geschichte. Schön und traurig zugleich.«
»Der Krieg ist voll von solchen Geschichten.« Jimmie seufzte tief. »Manchmal setze ich mich nachts im Bett auf und schlafe im Sitzen wieder ein. Und dann lieben wir uns wie damals im Lastwagen. Egal, wo ich bin, immer habe ich das Gefühl, sie sucht mich auch.«
»Eines Tages werden Sie sie wieder treffen.«
»Nein!«, entgegnete der Pilot scharf. »Ich will es gar nicht mehr. Die Erinnerung ist wahrscheinlich viel schöner, als die Wirklichkeit je sein könnte.«
Beide Männer verfielen in tiefes Schweigen und horchten aufmerksam auf das Rauschen des Wassers, das immer lauter zu werden schien.
Im Morgengrauen war die Sandbank gänzlich im Wasser verschwunden.
Der Fluss war um mehr als einen halben Meter gestiegen und reichte der Bristol jetzt fast bis zum Rumpf. Es war in der Tat ein ungewöhnlicher Anblick, fast surrealistisch: ein alter Doppeldecker, der mitten in der venezolanischen Savanne auf einem vergessenen Fluss schaukelte.
Etwas Ähnliches muss wohl auch der Mann gedacht haben, der am späten Vormittag mit seinem Kanu um die Biegung gepaddelt kam. Als er die seltsame Erscheinung entdeckte, hielt er mitten in der Bewegung inne und starrte mit offenem Mund auf die Maschine. Er bekam kein Wort heraus. Schließlich winkte der König der Lüfte ihm mit beiden Armen zu.