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»Dem Leibhaftigen nicht, aber dem Vater aller Flüsse.«

Sein entkräfteter Kamerad warf ihm einen forschenden Blick zu, um sich davon zu überzeugen, dass er es ernst meinte.

»Dann stimmt die Legende also.«

Der andere nickte unmerklich.

»Er entspringt direkt im Himmel und ist das Schönste, was ich je gesehen habe.«

Dann schloss er die Augen und fiel in tiefen Schlaf.

John McCracken rührte sich nicht von der Stelle.

Er wusste genau, dass er viel zu geschwächt war, um auch nur den Versuch zu machen, aus dem Kanu zu steigen. So gab er sich damit zufrieden, den kraftlosen Körper seines Freundes zu beobachten, denn er wusste aus Erfahrung, dass nichts und niemand auf der Welt seinen Kameraden aus dem Tiefschlaf holen konnte, wenn die Erschöpfung ihn erst einmal überwältigt hatte.

Lange waren sie nun schon zusammen, zu lange.

Wie viele Jahre, zehn, zwölf, fünfzehn…?

Es waren so viele, dass er aufgehört hatte, sie zu zählen, und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er sein Zeitgefühl längst verloren hatte.

Er hatte nicht die leiseste Ahnung, welchen Tag, Monat oder welches Jahr man gerade schrieb.

Das Einzige, woran er sich genau erinnerte, war, wie er zusammen mit All Williams im Herbst des Jahres 1902 im schlammigen Hafen von Guayaquil in tropischer Hitze von Bord gegangen war, fest entschlossen, den sagenumwobenen Schatz von Rumiñahui zu finden, der sich alten Überlieferungen zufolge immer noch in einer riesigen Höhle in der Region von Llanganates mitten im ecuadorianischen Amazonasgebiet befand.

Ende des 17. Jahrhunderts waren zwei Seeleute — Schotten wie er selbst — beladen mit Diamanten und Smaragden nach London zurückgekehrt und hatten versichert, dass sie so viel zurückgelassen hatten, wie hundert Männer tragen konnten.

Monat um Monat, Jahr um Jahr hatte der verfluchte Urwald in den Bergen von Ecuador die beiden einst kräftigen und von Abenteuerlust getriebenen Männer langsam, aber sicher zermürbt. Misserfolg folgte auf Misserfolg. Es war die unwirtlichste und menschenfeindlichste Gegend auf Erden. Nur Affen, Jaguare und Fledermäuse schienen hier überleben zu können. Alle anderen, die verwegen oder verrückt genug waren, sich hineinzuwagen, wurden als gebrochene Menschen wieder ausgespuckt.

Sie hatten sich damit abfinden müssen, in den Wassern des Río Napo nach Goldstaub zu schürfen. Sie hatten bis zum Umfallen geschuftet und sich mit der Zeit den Rücken ruiniert, nur um genug Geld für eine neue Ausrüstung und Waffen zusammenzukratzen und ihre verzweifelte Reise flussabwärts fortzusetzen, dorthin, wo der Napo in den gewaltigen Amazonas mündet.

Sie waren dem Amazonas bis Manaus gefolgt, jener Stadt, die dank des Kautschukfiebers einst bedeutend und wohlhabend gewesen war. Sechs Monate waren sie den Río Negro aufwärts zu den fernen, stets nebelverhangenen Bergen im berühmtberüchtigten Escudo Guayanés gepaddelt. In dieses abgelegene Land, wo es, so erzählte man, nur den tollkühnsten Männern gelang, mit Gold und Diamanten reich zu werden.

Wie viele Jahre waren seitdem vergangen?

Wie viele Strapazen, wie viele Krankheiten, schlaflose und verzweifelte Nächte hatten sie überstanden, bevor ihnen bewusst wurde, dass sie ihre besten Jahre geopfert hatten, um einer Schimäre nachzujagen?

Wie viele Tausende von Kilometern hatten sie zurückgelegt?

Wie viel Hitze und Hunger ertragen?

Wie viele Insektenstiche und wie viele Infektionen?

Aber welche Freundschaft und welches Vertrauen war während der langen Odyssee auch zwischen diesen Männern entstanden!

Keiner von beiden hatte eine verächtliche Geste oder ein Wort des Vorwurfs gehabt, keiner mit dem Gedanken an Rebellion gespielt, obwohl sie wussten, dass Tag für Tag der Starrsinn des einen die Sturheit des anderen nährte und insgeheim beide darauf hofften, dass der andere irgendwann sagen würde:

»Ich kann nicht mehr!«

Doch wie konnte man das aussprechen? Wie einen Traum jäh beenden, dem sie so lange Zeit hinterhergejagt waren?

Wie sich eingestehen, dass sie versagt hatten, und wie in eine Zivilisation zurückkehren, mit der sie nichts mehr verband?

Sie waren Männer des Dschungels und der Berge, Männer, die an Einsamkeit und lange Nachtwachen gewöhnt waren, in denen einer mit der Waffe in der Hand dasaß, während sein Kamerad sich ausruhte. Sie waren zusammengeschweißt durch eine aufrichtige, tiefe Freundschaft, die an keinem anderen Ort des Planeten eine solche Intensität hätte erreichen können wie hier in diesem wilden Land, das Gott offensichtlich vergessen hatte.

Der Waliser All Williams und sein schottischer Freund McCracken gehörten jener seltenen Spezies von Pionieren an, die hin- und hergerissen waren zwischen der besessenen Suche nach Reichtum und der Leidenschaft für romantische Abenteuer. Männer, auf die ein Goldklumpen oder ein funkelnder Diamant genauso anziehend wirkte wie ein unerforschtes Gebirge oder ein unbekannter Stamm von Menschenfressern.

Ihre Ambitionen reichten weit über den bloßen Traum von materiellem Wohlstand hinaus. Sie waren Ausdruck einer unersättlichen Lust auf neue Horizonte, fremde Länder und Wissen, das für andere nicht erreichbar war.

Jetzt aber waren sie müde.

Schrecklich müde.

Und sehr krank.

Der Dschungel forderte einen hohen Tribut. Egal, wie kräftig, wie ausgeglichen und gefestigt man sein mochte, unausweichlich kam irgendwann der Augenblick, in dem Hitze, Feuchtigkeit, Fieber und Moskitos ihre Rechnung präsentierten und den Widerstand von Körper und Geist brachen.

Und sie waren weit weg von zu Hause.

Aber von welchem Zuhause, wenn sie doch niemals eins gehabt hatten?

In Wirklichkeit hatten sie sich allem und jedem entfremdet.

Während McCracken nun über den Schlaf seines Freundes wachte, versuchte er wieder einmal herauszubekommen, welcher Fluss es sein könnte, an dessen Ufer sie ihr Lager errichtet hatten, und wohin sein Strom sie wohl führen mochte.

Er floss gemächlich in Richtung Osten, also ins Innere des Kontinents, und das wiederum bedeutete, dass er einen größeren Fluss suchte, in den er münden konnte. Vielleicht den gewaltigen Orinoco oder den sagenhaften Río Negro, den sie schon vor vielen Monaten hinter sich gelassen zu haben glaubten.

Im gottverfluchten Escudo Guayanés verkam jede Schätzung zu bloßer Spekulation, denn es gab weder Landkarten noch irgendwelche Markierungen. Anscheinend gab es nicht einmal wilde Stämme, die einem hätten sagen können, woher das schwarze Wasser des Flusses kam oder wohin es floss.

»Ich habe den Fluss aller Flüsse gesehen«, hatte sein Freund Williams behauptet, ehe er vor Erschöpfung zusammengebrochen war. Zwar hatten sie jahrelang Geschichten über einen geheimnisvollen Fluss gehört, der angeblich im Himmel entsprang, doch bisher hatte niemand ihnen sagen können, wo sich dieser Fluss befand oder wo er mündete.

Er konnte ebenso gut in Brasilien wie in Venezuela, Kolumbien oder sogar Guayana liegen. Sie irrten seit Jahren umher und hatten niemanden getroffen, der ihnen halbwegs verlässliche Informationen hätte geben können, und sie hatten zwar nicht ihren Orientierungssinn, dafür aber das Gefühl für Entfernungen verloren.

Millionen von Bäumen.

Milliarden von Lianen.

Myriaden von Bächen, kleinen Flüssen, Stromschnellen und Wasserfällen.

Endlose Sümpfe.

Einsamkeit.

Das war der Dschungel, der sich von den Küsten der Karibik bis zu den Ufern des Río de la Plata, von den langen Wellen des Atlantik bis zu den verschneiten Berggipfeln der Anden erstreckte.

Dschungel und Einsamkeit.

Zwei Worte, die hier im Regenwald Synonyme hätten sein können, denn in keiner Gegend auf der Welt kamen dermaßen viele verschiedene Spezies vor — hauptsächlich Insekten, von denen die meisten unbekannt waren —, und es gab keinen Landstrich auf der Welt, der zwei Männern aus dem fernen Großbritannien so einsam und trostlos hätte erscheinen können.