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Sie seufzte und hielt in ihrer Beschäftigung inne. Dann setzte sie die Brille wieder auf und hob den Kopf, um dem Schotten einen Blick zuzuwerfen. McCracken schwieg und lächelte höflich.

»Damals hätte ich mir nie träumen lassen, dass die Menschen eins der schönsten Werke, das der Schöpfer ihnen hinterlassen hat, so rücksichtslos vernichten könnten.«

»Die Menschen?«, fragte McCracken überrascht. »Warum sind denn die armen Menschen daran schuld? Sie leiden doch am meisten unter diesen launischen Naturgewalten. Wind und Staub zum Beispiel.«

»Trotzdem tragen sie allein die Schuld daran!«

»Sie allein?«, wiederholte McCracken halb spöttisch, halb ungläubig.

»Ja!«

»Was haben sie denn verbrochen? Sind sie etwa schuld am Wind?«

»Stellen Sie sich doch nicht so dumm an, junger Mann«, unterbrach ihn die alte Frau, ohne jedoch unfreundlich zu werden. »Ich könnte Ihre Mutter sein, und das will einiges heißen. Sie selbst sind auch nicht gerade ein junger Spund. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Als ich diese Reise zum ersten Mal machte, sind wir noch von Indianern angegriffen worden.«

»Ist das wahr?«

»So wahr ich hier sitze! Mein Vater musste einem von diesen Rothäuten in den Allerwertesten schießen, um sie zu vertreiben.«

»Merkwürdig! Ich glaubte, die letzten wilden Indianer wären verschwunden, als…«

»Als ich schon meinen zweiten Sohn zur Welt gebracht hatte, junger Mann«, unterbrach ihn die Alte erneut. »Sie wollen mir doch keine Lektion in der Geschichte meines Landes erteilen, oder? Aus Ihrem Akzent schließe ich, dass Sie Engländer sind?«

»Schotte.«

»Na ja, das kommt aufs Gleiche raus. Nehmen Sie es nicht persönlich«, setzte sie schnell hinzu und griff nach einer fein ziselierten Dose, die neben ihr lag. Sie klappte die Bonbonniere auf und bot ihrem Gegenüber zur Versöhnung eine Praline an. »Mögen Sie Schokolade?«

McCracken nahm an, mehr aus Höflichkeit. Während er die Praline aus dem Papier wickelte, beobachtete er die Frau, die unbewusst langsam den Kopf schüttelte.

»Nichts lag mir ferner, als Ihnen eine Lektion in der Geschichte Ihres Landes zu erteilen«, beteuerte er. »Das könnte ich gar nicht. Aber ich bin sehr viel in der Welt herumgekommen und eins glaube ich gelernt zu haben: Angesichts von Naturgewalten ist der Mensch ein Nichts.« Er deutete auf das wenige, was man durch das offene Fenster erkennen konnte, und setzte hinzu: »Wenn sich die Natur in den Kopf setzt, so viel Staub aufzuwirbeln, dass die Sonne verschwindet, kann der Mensch nicht das Geringste dagegen tun.«

»Der Mensch ist schuld am Staub!«, erklärte die alte Dame selbstsicher.

»Glauben Sie das wirklich?«, erwiderte McCracken lachend. »Wie soll er das denn angestellt haben? Mit irgendwelchen Zaubertänzen?«

Die vornehme Dame mit dem kurzen schneeweißen Haar und dem eleganten grauen Seidenkleid, dessen Ausschnitt und Ärmel mit feinen Spitzen versehen waren, warf dem eleganten Herrn im dunklen Anzug mit geblümter Weste, der eine dicke Goldkette mit einer wertvollen Uhr um den Hals trug, einen strengen Blick zu. Erst als sie sich davon überzeugt hatte, dass sie mit ihm nicht ihre Zeit vergeuden würde, fragte sie ruhig: »Wollen Sie es wirklich wissen? Oder hören Sie nur aus Höflichkeit einer armen alten Frau zu, die allem Anschein nach nicht mehr ganz richtig im Kopf ist?«

»Wir haben eine lange Reise vor uns«, antwortete McCracken, als stünde das für beide fest. »Es wäre töricht von mir, wenn ich mir die Gelegenheit durch die Lappen gehen ließe, etwas Neues zu erfahren, nicht wahr? Vor allem, wenn man vor lauter Staub nicht einmal die Landschaft genießen kann.«

»Sie sagen es. Das wäre töricht.« Plötzlich verblüffte ihn die Dame damit, dass sie ein Zigarrenetui aus ihrer Handtasche nahm. »Rauchen Sie?«, fragte sie und griff nach einer dicken Havanna.

»Danke nein.«

»Stört es Sie, wenn ich rauche?«

McCracken warf einen unbehaglichen Blick auf die dicke Zigarre mit der auffallenden Bauchbinde und schüttelte mit gespielter Gleichgültigkeit den Kopf.

»Keineswegs.«

Die alte Dame, die weit über achtzig sein musste, nahm ein Streichholz, biss das Mundstück der Zigarre ab und zündete sie an, so bedächtig und natürlich wie jemand, der sein ganzes Leben nichts anderes getan hat.

»Das ist eins der letzten Laster, die ich mir gönne«, erklärte sie und blies genüsslich die erste Rauchwolke aus. »Meine Enkel sagen immer, dass der Tabak mich eines Tages noch umbringen wird, aber offensichtlich hat er es nicht eilig.« Sie machte eine Pause, beobachtete mit einem zufriedenen Lächeln, wie sich der Rauch zur Decke emporkräuselte, und wandte sich wieder dem Fremden zu. »Wo waren wir stehen geblieben?« Sie deutete mit der Zigarre auf die unsichtbare Landschaft hinter dem Fenster. »Ach ja! Ich wollte Ihnen erklären, dass die schreckliche Katastrophe da draußen, die diese Gegend wie den Rest des Landes allmählich in den Ruin treibt, von Menschenhand gemacht ist.« Sie seufzte erneut, tief und laut, und setzte dann stolz hinzu: »Das hat mein Mann, Gott hab ihn selig, schon vor dreißig Jahren prophezeit!«

»Ist der Wind etwa auch an dem wirtschaftlichen Untergang des Landes und der Depression schuld?«, entgegnete McCracken spöttisch. Er hätte um ein Haar laut losgelacht. »Das müssen Sie mir näher erklären. Hat er während des Börsenkrachs im Jahr neunundzwanzig die New Yorker Aktien aus dem Fenster geweht?«

»Nicht wortwörtlich, versteht sich. An jenem Tag haben die Menschen die Fenster höchstens geöffnet, um sich hinauszustürzen. Aber im übertragenen Sinne schon, das könnte man mit Fug und Recht behaupten.«

»Wie kommen Sie auf diese haarsträubende Theorie?«

»Wollen Sie das wirklich wissen? Möchten Sie nicht lieber etwas lesen oder sich im Speisewagen ein Gläschen genehmigen?«

»Aber nein, glauben Sie mir. Ich brenne förmlich darauf, dass Sie mir Ihre Theorien erläutern. Ich würde nur allzu gern wissen, wie das reichste Land der Welt über Nacht sein gesamtes Vermögen verlieren konnte. Dass ein Börsenkrach kollektiven Wahn auslöst, so etwas wäre in Großbritannien nie denkbar.«

»Weil man dort den Rasen pflegt.«

»Wie bitte?«

»Weil man in Ihrem Land den Rasen pflegt. Oder die Wiesen, um genauer zu sein. Wir hier in den Vereinigten Staaten haben das nie gelernt.«

»Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.«

»Ich meine den Rasen. Das Grün, das früher die Prärie bedeckte, durch die wir seit Stunden fahren. Das Land hier war wie gesagt ein Paradies.« Sie zog an der Zigarre und lehnte sich ins Polster zurück, als wollte sie sich ihre Kindheit ins Gedächtnis zurückrufen. »Gott hatte es als Paradies für die Büffel geschaffen«, erklärte sie nachdenklich. »Abermillionen von Büffeln haben hier gegrast. Und die haben eine Eigenart: Sie fressen nämlich nur die Triebe, ohne dabei auch die Wurzeln auszurupfen. Und sie ziehen immer weiter, sodass sich der Boden schnell erholen und das Gras nachwachsen kann.« Sie machte eine breite Gebärde, als wollte sie das gesamte unsichtbare Land vor den Fenstern einschließen. »Überall hier gab es breite Flüsse, tiefe Seen, die das überschüssige Wasser auffingen und langsam über das ganze Land verteilten. So war es seit Anbeginn der Zeit, solange ich mich erinnern kann.«

»Und was ist dann passiert?«