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»Seit mehr als drei Stunden starrst du schon so vor dich hin!«, sagte sie. »Was hast du?«

»Ich denke nach.«

»Darf man erfahren, worüber?«

»Über so allerlei«, antwortete Jimmie. »Heute Morgen lag einer der Pickups, mit denen die Wanderarbeiter umherziehen, mit gebrochener Achse im Straßengraben. Ein paar Kilometer weiter habe ich die Leute dann überholt. Sie waren wie Maulesel bepackt und wollten in den Westen.« Er wandte den Kopf und sah seiner Frau in die Augen. »Sie meinten tatsächlich, sie könnten zu Fuß bis nach Kalifornien marschieren.«

»Verzweiflung kann ungeahnte Kräfte mobilisieren«, erklärte sie. »Was bleibt ihnen sonst übrig? Wenn sie in Kansas oder Oklahoma bleiben, verhungern sie.«

»Meinst du, dass es ihnen in Kalifornien besser gehen wird? Das letzte Mal, als ich in Los Angeles war, hat man mir erzählt, dass der Lohn eines Feldarbeiters heute nicht mal mehr ausreicht, um sich einen Hot Dog zu kaufen!«

»Das ist nichts Neues. Es gibt immer welche, die von einer Wirtschaftskrise profitieren.« Virginia klang ärgerlich. »Und diese Krise ist eine der schlimmsten, die es je gab. Viele werden daran sterben, aber viele werden auch ein Vermögen machen.«

»Kann man denn nichts dagegen tun?«

»Was denn? Willst du den Wind mit deinen Armen aufhalten? Oder den Wolken befehlen, gegen den Wind anzukämpfen?«

»Aber dieser Exodus ist so sinnlos. Ich habe Angst, dass die ganze Sache auch uns mit in den Untergang ziehen könnte.«

»Worauf willst du eigentlich hinaus?«, fragte sie mit einem Mal aggressiv.

»Was meinst du?«

»Dass wir uns jedes Mal, wenn du mir so kommst, wenig später am Ende der Welt wiederfinden.« Sie zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf ihn. »Ich kenne dich. Ich kenne dich viel zu gut! Immer wenn du deine soziale Ader wieder entdeckst, heißt das, dass du Pfeffer unterm Arsch hast.«

»Was für ein Unsinn! Was soll das?«

Virginia Angel blies sich nervös eine Haarsträhne aus der Stirn und sah ihn an.

»Ich hab die Nase voll«, murmelte sie. »Du hast mir versprochen, dass wir hier bleiben und in diesem schönen Haus zusammen alt werden.«

»Habe ich denn das Gegenteil behauptet?«, fuhr der Pilot auf und breitete empört die Arme aus. »Habe ich so was auch nur angedeutet?«

»Mir kannst du nichts vormachen. Ich weiß genau, was dir durch den Kopf geht.« Virginia Angel beugte sich vor und sah ihrem Mann in die von vielen Fältchen umgebenen Augen. Schließlich fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen: »Was ist es diesmal? Irgendein Stunt, ein Zirkusauftritt oder die verdammten Nitroglyzerintransporte? Eines Tages wirst du noch in die Luft gehen und dann findet man nicht mal mehr einen Fingernagel von dir.«

Jimmie starrte schweigend auf die Scheinwerfer der Wagen, die über die Hauptstraße flimmerten. Einen Augenblick lang schien er der Frage ausweichen zu wollen, doch dann ließ er die Katze aus dem Sack.

»Es ist nichts von alledem«, gestand er leise. »Letzte Woche bin ich im Zug John McCracken wiederbegegnet.«

»Ach, du liebe Güte! John McCracken? Dem Schotten?«

»Ja.«

»Du kannst mir nichts vormachen, Jimmie. Nach elf Jahren läuft man einem Mann wie John McCracken nicht so einfach über den Weg, noch dazu in einem Zug. Gib es zu. Du hast ihn aufgesucht.«

»Nein, glaub mir!«, widersprach Jimmie erbost. »Dass ich ihn im Zug getroffen habe, war reiner Zufall. Er kam gerade aus Houston. So etwas passiert.«

»Eigenartigerweise passiert so etwas immer nur dir.« Virginia Angel sah ihm in die Augen. »Und?«, bohrte sie nach. »Nehmen wir an, dass du unter den vielen Millionen Menschen, die es in diesem Land gibt, aus purem Zufall ausgerechnet McCracken über den Weg laufen musstest. Irgendetwas verschweigst du mir trotzdem. Hat er dir vielleicht vorgeschlagen, ihn noch einmal zu diesem verfluchten Berg zu fliegen? Du hast mir selbst erzählt, was für ein Wahnsinn das war.«

»Nein, hat er nicht«, erwiderte ihr Mann. »Er hat Krebs und wird bald sterben.«

»Das tut mir Leid für ihn, wirklich«, antwortete seine Frau scheinbar beruhigt. »Du weißt ja, mein Vater ist eines grausamen Todes gestorben, auch an Krebs, und du hast immer nur Gutes von diesem Schotten erzählt. Ist es das, was dich quält?«

»Nicht nur das. Er hat mir seine Goldmine vermacht!«, gestand der Pilot wie ein verängstigter kleiner Junge.

»Was sagst du da?«, rief Virginia erschrocken, als hätte er ihr soeben eine Ohrfeige verpasst.

»Er hat mir seine Goldmine geschenkt.«

»Und warum ausgerechnet dir?«

»Weil er keine Familie hat und ich sein einziger Freund bin.«

»Quatsch!«

»Das waren seine Worte.«

»Das glaube ich nicht. Andererseits passieren dir immer die unglaublichsten Dinge der Welt. Aber warum eigentlich? Was zum Teufel stellst du bloß immer an, dass alles auf dich fällt?«

»Ich habe gar nichts angestellt.« Der König der Lüfte hob die Hand. »Mein Ehrenwort!«

Seine Frau sprang auf und warf die Arme in die Luft, versuchte sich jedoch verzweifelt zusammenzureißen. Sie ballte die Fäuste und stapfte zwischen ihren prächtigen Blumenbeeten auf und ab, als hätte sie in eine Chilischote gebissen und wartete nun, dass ihr Mund aufhörte zu brennen.

Schließlich ließ sie sich auf den Treppenstufen vor dem Pavillon nieder und verbarg das Gesicht in den Händen.

»Warum nur?« Sie seufzte laut. »Womit habe ich das verdient? Warum habe ich einen Verrückten geheiratet, der tagtäglich sein Leben aufs Spiel setzen muss? Und ausgerechnet jetzt, wo ich ihn endlich so weit hatte, dass er ein normales Leben führt, muss er diesem anderen Verrückten über den Weg laufen. Warum bloß? Was habe ich falsch gemacht?«

»McCracken ist nicht verrückt.«

»Ach nein? Jemand, der sein ganzes Leben im südamerikanischen Dschungel irgendwelchen verborgenen Schätzen hinterherjagt, ist nicht verrückt? Jemand, der andere dazu nötigt, auf einem tausend Meter hohen wolkenverhangenen Tafelberg zu landen, ist nicht verrückt? Wenn nicht er, wer denn dann? Jemand, der einer geregelten Arbeit nachgeht und ein ruhiges Leben führt?«

Es war offensichtlich, dass Jimmie auf diese Fragen keine Antwort wusste. Schweigend zündete er sich seine Pfeife an und stand auf. Dann verließ er den Pavillon, stieg über den niedrigen Gartenzaun und verlor sich ohne Eile im Dunkel der Nacht.

»Wo zum Teufel willst du hin?«, rief ihm seine Frau wütend hinterher.

»Mich betrinken«, gab er mit seiner sprichwörtlichen Gelassenheit zurück.

Im Dunkeln schlenderte er den schmalen Pfad entlang, den er tausendmal gegangen war und der zu einer Kneipe neben der Tankstelle an der Hauptstraße führte. Er rauchte seine Pfeife und rief sich das Gespräch, das er eben mit seiner Frau geführt hatte, Wort für Wort ins Gedächtnis zurück, fand jedoch nichts, was Hoffnung auf eine einvernehmliche Lösung hätte wecken können.

So sehr er sich auch den Kopf zerbrach, eines war klar: Die Frau, die er geheiratet hatte und mit der er Kinder haben wollte, war alles andere als begeistert von der Idee, auf einem gottverlassenen Tepui eine alte Gold- und Diamantenader zu suchen, die sie reich machen konnte.

Und wenn Virginia erst einmal nein gesagt hatte, dann war es unumstößlich. Er kannte seine Frau gut genug, um das zu wissen.

In der stockdunklen Nacht blieb er mit der Pfeife im Mund stehen. Er dachte an den unglaublichen und wunderbaren Augenblick, als die alte weiße Bristol Piper mitten auf dem Tepui gelandet war. Und als er sich an die Szene erinnerte, wie McCracken mit den Bastkörben aus dem Nebel aufgetaucht war, musste er grinsen.

Er würde diesen Tag niemals vergessen.

Mehr noch als alle Luftschlachten, Filme, Nitroglyzerintransporte oder riskanten Kunstflüge, an denen er in den letzten fünfzehn Jahren teilgenommen hatte, war die lebensgefährliche Landung auf dem von Nebel verhüllten Tafelberg der eigentliche Höhepunkt seiner Karriere gewesen.