»Und was mache ich mit Virginia?«
»Nichts. Du tust, was du tun musst, und wenn sie noch da ist, wenn du zurückkommst, gut, wenn nicht, hat sie eben Pech gehabt.«
»Aber ich liebe sie doch.«
»Sicher. Aber die Frage ist doch, ob sie dich liebt, nicht ob du sie liebst. Wenn ja, wird sie auf dich warten.«
»Glaubst du?«
Curry zuckte die Achseln und zog eine Grimasse, die deutlich machte, dass er an gar nichts glaubte. Als der König der Lüfte die Kneipe verließ, war er genauso verwirrt wie eine Stunde zuvor, als er sie betreten hatte — wenn nicht noch mehr.
Ein wenig torkelnd nahm er denselben Weg nach Hause zurück und blieb auf halber Strecke stehen, um zu pinkeln. Er sah zum dunklen Himmel auf, von dem sämtliche Sterne wie weggewischt schienen, und fragte sich, welches Schicksal ihn tatsächlich erwarten mochte, wenn er diesem Wink des Schicksals nicht folgte.
Er war kein Pessimist wie Curry und hoffte insgeheim, dass die Krise bald überwunden war und die Vereinigten Staaten wieder zu jenem mächtigen Land wurden, in dem alles möglich war und auf das sie immer so stolz gewesen waren.
Tatsächlich waren verheerende Fehler gemacht worden. Die Menschen hatten sich in ihrer scheinbar grenzenlosen Euphorie schwer versündigt. Er selbst war diesem Tanz um das Goldene Kalb erlegen und hatte den größten Teil seines Vermögens in Aktien investiert. Die Börsenwerte waren mit jedem Tag höher in den Himmel gewachsen, als gäbe es überhaupt keine Grenzen mehr. Aber er hätte wissen müssen, mehr als jeder andere, dass alles, was so schnell steigt, früher oder später auch wieder fallen muss.
Als Testpilot hatte er unzählige Prototypen von Flugzeugen erlebt, die auf dem Reißbrett einen perfekten Eindruck machten, sich in der Praxis jedoch als untauglich erwiesen. Aber dass manche in der Luft explodiert oder wie ein Stein vom Himmel gefallen waren, hieß noch lange nicht, dass die Luftfahrt an sich zum Scheitern verurteilt war.
Man brauchte einen langen Atem, um aus den Fehlern der Vergangenheit lernen zu können. Tief in seinem Innern wusste Jimmie Angel, dass das Land die Fehler, die zur augenblicklichen Wirtschaftskrise geführt hatten, schon bald korrigieren würde.
Als ganze Nation Kräfte zu sammeln und die richtigen Männer zu finden, die das Land aus der Krise führen konnten, war eine Sache. Es auch als Einzelner zu schaffen war etwas anderes, das wurde Jimmie in diesem Augenblick sehr klar.
Er war jetzt zweiunddreißig. Bald würden seine Arme nicht mehr die Kraft für komplizierte Pirouetten in der Luft aufbringen. Seine Reflexe würden nachlassen und er würde nicht mehr schnell genug auf unvorhergesehene Gefahren reagieren können. Gelegentlich flatterten ihm schon die Nerven, wenn er in klapprigen Maschinen hochexplosives Nitroglyzerin transportieren musste.
Er wusste auch, dass Virginia nicht locker lassen und ihm so lange zusetzen würde, bis ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als einen Job in einem Büro anzunehmen oder sich damit abzufinden, als Postflieger einen Ort nach dem anderen abzuklappern wie ein Busfahrer.
Und zur gleichen Zeit lag ein Haufen Gold und Diamanten in einer Höhle auf McCrackens Berg, der jetzt sein Berg war, irgendwo in der gottverlassenen Gran Sabana. Bis jemand den Mut aufbrachte, die steilen wie mit einem Messer gezogenen Felswände des Tafelberges zu erklettern und sein Geheimnis zu lüften.
Müde setzte er sich auf die Stufen vor seinem Hauseingang und blickte still in die Nacht.
Es dauerte nicht lange, bis Virginia ihn da draußen bemerkte und in der Haustür erschien. Böse und besorgt zugleich fragte sie: »Was ist nun?«
»Ich fliege«, antwortete er heiser. »Ich fliege nach Venezuela!«
Dick Curry brauchte etwas länger als einen Monat, um seine Kneipe für einen Spottpreis zu verkaufen. Er musste die Hauptkosten der Unternehmung tragen, da Jimmie dazu nicht imstande war. Immerhin hatte er die moralische Verpflichtung, Virginia genug Geld dazulassen, damit sie über die Runden kam, bis er zurück war.
Die beiden Männer hofften zwar auf eine baldige Rückkehr, wussten aber auch, dass sie nur den Anfang der abenteuerlichen Expedition planen konnten. Alles Weitere hing davon ab, wie dicht die Wolkenwand war, die den Heiligen Berg verhüllte.
Ihre Nachforschungen hatten ergeben, dass sich südlich des Orinoco nicht viel geändert hatte, seit Jimmie das letzte Mal dort gewesen war. Allerdings konnten sie jetzt auf die unschätzbare Hilfe verlässlicher Karten bauen. Die venezolanische Armee hatte die Vermessung des Landes endlich abgeschlossen.
Ansonsten aber schien alles beim Alten geblieben zu sein: Dschungel, Wind, Stürme, sintflutartiger Regen, Banditen und »Menschenfresser«. Und noch immer war es in einem Umkreis von tausend Meilen so gut wie unmöglich, die Maschine aufzutanken.
Sie mussten sich zum größten Teil auf ihr Glück, ihre Intuition und Jimmies viel gerühmtes Orientierungsvermögen verlassen.
Ein mehr als tausend Meter hoher Tafelberg, der sich dreihundert Kilometer südlich des Orinoco und fünfzig Kilometer östlich des Río Caroní in den Himmel erhob: Das war alles, was sie wussten.
Es folgte eine zermürbende Suche nach einer geeigneten Gebrauchtmaschine. Nachdem sie die Vor- und Nachteile der Angebote angesichts der schwierigen Bedingungen, unter denen sie fliegen würden, sorgfältig abgewogen hatten, entschied sich Jimmie nach langem Hin und Her für einen einmotorigen Doppeldecker. Die Gipsy Moth war vor vier Jahren von De Havilland hergestellt worden und hatte einer Ölgesellschaft gehört, die die Maschine zum Transport von Nitroglyzerin eingesetzt hatte.
Später sollten sie den Entschluss bereuen angesichts der vielen Probleme, die sie ihnen nach ihrer ersten Bruchlandung bereitete. Doch als sie jetzt am Flughafen von Springfield über die Landebahn rollte, machte sie noch einen tadellosen und unversehrten Eindruck.
Tatsächlich war die Gipsy Moth eine extrem gut gebaute und robuste Maschine. Sie besaß einen hundertzwanzig PS starken Motor und erreichte eine Spitzengeschwindigkeit von hundertfünfzig Kilometern in der Stunde. Ihr außergewöhnlich großer Tankraum hatte es Lady Mary Bailey vor einigen Jahren ermöglicht, einen neuen Rekord aufzustellen und eine Flughöhe von fünftausend Metern zu erreichen.
Die aerodynamischen Tragflächen aus sorgfältig poliertem Holz, der spitze Bug, das grazil anmutende, aber durchaus zuverlässige Hauptfahrwerk und die breiten, gemütlichen Sitze ließen sie in Jimmies Augen für die heikle Mission, die ihnen bevorstand, ideal erscheinen. Zudem benötigte sie sehr wenig Raum zum Landen und Starten.
Doch das wichtigste Argument, das letztlich den Ausschlag gab, war der Preis: Er lag gerade noch im Rahmen dessen, was sie sich leisten konnten.
Bevor sie endgültig in den Süden aufbrachen, nahmen sie den Motor der Maschine komplett auseinander und bauten ihn wieder zusammen. Diese Prozedur wiederholten sie mehrere Male, bis sie sich mit allen Einzelheiten vertraut gemacht hatten und den Motor so gut kannten wie ihre eigene Westentasche.
Curry hatte noch nie einen Fuß in ein Flugzeug gesetzt, aber als Rennfahrer kannte er sich mit Motoren aus und war ein hervorragender Mechaniker. Beiden war bewusst, dass ihre Rückkehr von diesem schwierigen Unterfangen einzig und allein von einem einwandfrei funktionierenden Motor abhing.
Sie hatten eine Reise von dreizehntausend Kilometern vor sich, sechseinhalbtausend hin und sechseinhalbtausend zurück. Verdammt viele Flugstunden für eine Maschine, die bereits vier Jahre harten Einsatz auf dem Buckel und seit ihrer Konstruktion drüben im fernen England mehrmals den Besitzer gewechselt hatte.
Dreizehntausend Kilometer in der Luft, und darin waren nicht mal eventuelle Kursänderungen oder die eigentliche Suche nach dem Berg berücksichtigt. Zu viele Kilometer, wenn man recht darüber nachdachte, und zu viele vor allem, wenn man den Zustand der fragilen Maschine näher unter die Lupe nahm.