»Was sollen wir tun?«, fragte sein Freund nervös, während er das martialische Aussehen der Indianer betrachtete.
»Wir können gar nichts tun.«
»Vielleicht solltest du mit ihnen reden.«
»Was soll ich ihnen denn sagen? Ich bin sicher, dass sie kein Wort Spanisch sprechen, außerdem habe ich nicht die leiseste Ahnung, welchem Stamm sie angehören. Es können genauso gut friedfertige pemones wie waicas oder diese unheimlichen guaharibos sein, die sich im tiefsten Urwald in den Bergen versteckt halten.«
»Waicas? Sind das nicht Kannibalen?«, flüsterte Curry entsetzt.
»Wie soll ich das wissen? Sei endlich still und beweg dich nicht. Vielleicht ziehen sie dann wieder ab. Offensichtlich interessieren sie sich nur für den Flieger.«
»Was meinst du, wie lange es dauert, bis es ihnen zu langweilig wird?«
»Keine Ahnung.«
Am Nachmittag hatten sich die Indianer immer noch nicht von der Stelle bewegt. Curry konnte seine Nervosität nicht länger im Zaum halten.
»Was haben die bloß? Was hält sie so im Bann?«
»Das Flugzeug«, antwortete Jimmie. »Als ich zum ersten Mal eines gesehen habe, musste ich es vier Stunden lang anstarren. Und ich hatte schon Autos gesehen, ich wusste, was ein Motor ist und wie er funktioniert.« Er hob die Handflächen zum Himmel, als könnte er mit dieser Geste alles erklären. »Stell dir vor, was diesen Menschen durch den Kopf gehen muss, die in ihrem Leben nichts als Bäume gesehen haben!«
»Ob sie die Maschine für eine Art Gott halten?«
»Wer weiß? Jedenfalls kann es fliegen und ich glaube nicht, dass es in ihrer Religion etwas gibt, das sich über die Wolken erheben kann. Vielleicht halten sie uns für Halbgötter oder für die Diener des großen Vogels. Aber was immer sie über uns denken mögen, es wäre auf alle Fälle besser, wenn sie uns nicht für stinknormale Menschen hielten.«
»Würden sie uns dann angreifen?«
»Hör endlich damit auf, Dick!«, fuhr ihn der Pilot ungeduldig an. »Ich weiß darüber nicht mehr als du und du kannst mir glauben, dass ich genauso viel Angst habe. Aber solange sie wie hypnotisiert dahocken, geschieht uns nichts. Was wird, weiß nur Gott.«
»Was, wenn sie nur darauf warten, dass es dunkel wird, um uns zu töten?«
»Was hält sie denn davon ab, uns schon jetzt zu töten?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht töten sie lieber während der Nacht…«
Die Nacht senkte sich herab und nichts geschah.
Nur der Dunst schien undurchdringlicher als je zuvor.
Als es hell wurde, hockten die Indianer immer noch im Kreis um die Maschine.
An derselben Stelle, in derselben Haltung.
Es verging ein weiterer Tag.
Sie sprachen nicht, sie aßen nicht, sie tranken nicht.
Waren es überhaupt Menschen?
Noch eine Nacht.
Noch ein Tag.
Drei Tage und drei Nächte lang verharrten sie reglos, ohne einen Muskel zu rühren, als hätte das mechanische Ungeheuer sie tatsächlich hypnotisiert. Während der ganzen Zeit lagen die beiden Männer reglos in ihren Hängematten. Sie mussten sogar ihre Notdurft an Ort und Stelle verrichten, nachdem sie mit bloßen Händen ein Loch in die nasse Erde gegraben hatten.
Nicht einmal ein Feuer wagten sie anzuzünden. Nachts schliefen sie abwechselnd, die schussbereiten Waffen neben sich, obwohl sie wussten, dass ihre Überlebenschancen gleich null waren angesichts der Anzahl und Bewaffnung ihrer schweigsamen Besucher.
In der vierten Nacht verschwanden die ungebetenen Gäste ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht waren.
»Gott sei Dank!«
Wer waren sie?
Woher waren sie gekommen und warum hatten sie sich so merkwürdig verhalten?
Jimmie und Curry sollten nie den Grund für das rätselhafte Ritual erfahren, denn weder Goldsucher noch Militärs oder Missionare konnten ihnen später eine vernünftige Erklärung für das seltsame Verhalten liefern.
Doch letztlich zählte nur, dass sie mit dem Leben davongekommen waren.
Die beiden zivilisierten Männer waren zwar wie gelähmt vor Schreck, aber sie lebten und sie hatten einen Bärenhunger.
Mittlerweile war ihr Proviant zu Ende gegangen.
Nicht mal eine armselige Konservendose mit Bohnen war ihnen geblieben, nicht ein einziger verschimmelter Keks oder eine Hand voll Reis, die sie in ihrem schmutzigen Topf hätten kochen können.
»Und jetzt?«
Sie hatten zwei Möglichkeiten. Entweder an Hunger zu sterben oder zu versuchen, sich noch ein letztes Mal in die Luft zu erheben.
Natürlich entschieden sie sich für Letzteres.
Sie sammelten alles auf, was sie hatten, und luden es in die Maschine. Dann untersuchten sie besonders sorgfältig die Festigkeit des morastigen Bodens, in dem das Fahrwerk der Maschine zu versinken drohte. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass der sumpfige Untergrund überall gleich nachgiebig war, schätzte der Pilot mit finsterer Miene die Wahrscheinlichkeit, starten zu können, auf eins zu tausend.
Trotzdem ließ er den Motor Warmlaufen und verbrauchte damit unnötig kostbaren Sprit, den er unter anderen Umständen niemals derartig verschwendet hätte. Schließlich machte er es sich auf seinem Sitz bequem, empfahl seinem Passagier, den Gurt besonders fest zu ziehen, und gab Gas. Gleichzeitig betete er, dass die für die Maschine viel zu groß geratenen Reifen sich von dem schlammigen Boden lösen würden.
Drei bange Minuten verstrichen, in denen der Motor laut aufheulte, ehe die alte Gipsy Moth mit einem plötzlichen Ruck von der Stelle kam. Dann jedoch gewann sie allmählich an Geschwindigkeit. Rumpf und Tragflächen ächzten laut, als sie über den morastigen Untergrund holperte und sich endlich schwerfällig vom Boden losriss.
Plötzlich tauchte ein kleiner Palmenhain direkt vor dem Bug des Flugzeugs auf und der König der Lüfte konnte ihm gerade noch rechtzeitig ausweichen, indem er die Maschine scharf nach links lenkte, auf die Gefahr hin, die Spitze der Tragfläche in den Boden zu bohren.
Wenige Sekunden später brachte er sie wieder auf Kurs und zog den Steuerknüppel langsam an, um die Gipsy Moth zur Höchstleistung anzuspornen. Doch die alte so oft reparierte und noch öfter geschundene Kiste hatte die Grenze ihrer Belastbarkeit längst überschritten. Es kam ihnen vor, als vergösse sie angesichts ihrer eigenen Ohnmacht Tränen aus Öl.
Sie war dem Tod geweiht.
Ein Wrack in seinen letzten Zügen.
Ihr tapferes Herz konnte nicht mehr.
Jimmie spürte es bis in die Fingerspitzen, wie das Leben aus ihr wich.
»Es tut mir Leid«, murmelte er, als redete er mit einem lebendigen Wesen. »Ich weiß, dass du alles gegeben hast… Es tut mir wirklich Leid!«
Fast wären ihm die Tränen gekommen, denn ein Flugzeug zu verlieren, war für Jimmie fast so wie einen guten Freund zu verlieren. Seine langjährige Erfahrung aber sagte ihm, dass ihre treue Maschine ohne jeden Zweifel am Ende war.
Der Propeller drehte sich mittlerweile völlig unkontrolliert.
Stinkender schwarzer Qualm stieg ihm ins Gesicht.
Das Todesröcheln des Motors brach Jimmie fast das Herz.
Fünf Minuten vergingen.
Zehn.
Dann brach mit einem Mal die Welle ab, der Propeller wurde wegkatapultiert und verlor sich in der Tiefe. Der Kadaver der tapferen Gipsy Moth flog noch etwas mehr als einen Kilometer unkontrolliert weiter und stürzte dann wie ein Stück Blei zu Boden.
Stille.
Nur das endlose ohrenbetäubende Trommeln der Regentropfen.
»Lebst du noch?«
»Ja.«
»Bist du verletzt?«
»Ich glaube nicht. Und du?«