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In zwanzig Jahren hatte sich einiges verbessert.

Aber wie viele seiner Kollegen hatten dafür mit ihrem Leben bezahlen müssen?

Er dachte an die lange Liste von Piloten, die während dieser Zeit umgekommen waren. Und es dauerte nicht lange, bis er sich traurig eingestehen musste, dass der Blutzoll zu hoch gewesen war.

Zu viel Blut, zu viel Leid, zu viele Knochenbrüche.

Und zu viele zerrissene Körper wie der des armen Alex.

Doch er, Jimmie Angel, der König der Lüfte, war immer noch da. Stets zur Stelle, stets bereit zu neuen Taten. Er hatte allen Widrigkeiten getrotzt und sich sämtlichen Entwicklungen angepasst.

Bei diesem Gedanken verspürte er einen Anflug von Stolz.

Pionier einer Entwicklung zu sein, die eine derartige Bedeutung hatte, erfüllte ihn mit Genugtuung. Er wünschte sich sehnlichst, eines Tages seinen Namen neben denen zu sehen, die einen bedeutenden Beitrag zur Kunst des Fliegens geleistet hatten. Wie der unvergessliche Roland Garros, nach dem man gerade eine bedeutende Sportveranstaltung benannt hatte.

Plötzlich tauchte vor ihm in der Ferne ein einsames Licht auf.

Wer hatte da wohl mitten in der trostlosen Weite der Savanne ein Lagerfeuer angezündet? Wahrscheinlich ein einsamer Goldsucher, der sich in aller Herrgottsfrühe an die Arbeit machte, oder ein Indianer, der sich mit einem Feuer die Jaguare vom Leib hielt.

Wessen Feuer es auch war, sein Anblick beflügelte Jimmie, denn es gab ihm das Gefühl, das er nicht, wie man hätte glauben können, der einzige Mensch auf dem Planeten war.

Irgendwer da unten würde das Dröhnen seines Motors hören und vielleicht empfand er dabei dasselbe wie Jimmie. Dass er nicht allein war auf dieser Welt.

Was wird er glauben? fragte sich Jimmie. Was wird dieser Mensch denken, wenn er eine Maschine über seinen Kopf hinwegknattern hört, die sich dann in der Dunkelheit verliert? In eine Richtung, von der er weiß, dass sie in ein wildes, gottverlassenes Gebiet führt?

Was dachten die Menschen, die hier am Ende der Welt lebten und noch nie von einem Apparat gehört hatten, der schwerer war als die Luft und trotzdem fliegen konnte? Oder wenn sie plötzlich sahen, wie eines dieser Ungeheuer am Horizont auftauchte und von einem Ende zum anderen quer über den Himmel flog?

Vielleicht hielten sie die Maschine für ein Wesen von einem anderen Stern. Unruhe würde sich unter ihnen ausbreiten und sie würden den größten Teil ihrer Zeit damit verbringen, furchtsam und sehnsüchtig zugleich zum Himmel aufzusehen und darauf zu horchen, ob das metallene Ungeheuer erneut auftauchte.

Die Menschheit war Tausende von Jahren an den Boden gefesselt gewesen und es musste ziemlich verwirrend sein, nun jemanden fliegen zu sehen. Jimmie, der die Entwicklung der Luftfahrt von Anfang an miterlebt hatte, hätte nur allzu gern gewusst, welche Wirkung ein Flugzeug auf Menschen hatte, die noch nie eins gesehen hatten.

Mit solchen Gedanken vertrieb er sich die Zeit, während er auf die Morgendämmerung wartete.

Seine Erinnerungen halfen ihm zu vergessen, dass er durch die Nacht flog.

Die Aufmerksamkeit, mit der er alle Bordinstrumente im Auge behalten musste, drückte die Zeit wie eine Presse zusammen.

Unbemerkt stahl sich das erste Tageslicht an den Himmel.

Das Auge eines Jaguars hätte den Unterschied in der Helligkeit bemerkt, weil es sensibler auf Licht reagiert als die Augen der meisten anderen Tiere. Jimmie aber brauchte fünf Minuten länger, bis er merkte, dass der tägliche spektakuläre Auftritt der Dämmerung bereits begonnen hatte.

Nie wird sie ihrer Pracht müde, obwohl sie ständig irgendwo auf dem Planeten einsetzt.

Tag um Tag begrüßt die Morgendämmerung Meere, Berge, Regenwälder, die Pole oder Wüsten. Leuchtend und vielversprechend, denn sie weiß, dass seit Anbeginn der Zeit unzählige Geschöpfe auf ihre Ankunft warten.

Die Dämmerung vertreibt die Legionen ihres ewigen Feindes, der Nacht. Mit Ausnahme hinterhältiger Raubtiere, die im Dunkeln jagen, verabscheuen alle Wesen die Nacht und lieben die Wärme, das Leben und die Freude, die das Morgengrauen mit sich bringt.

Der Morgen, der am 25. März 1935 über der venezolanischen Savanne begann, brachte neue und wundersame Entdeckungen als Geschenk an die Welt mit.

Die Ouvertüre war das Zwitschern von Abermillionen von Vögeln.

Dann riss ein rötlicher Streifen den Horizont auf wie eine Unterschrift.

Ein blauer, fast durchsichtiger Himmel breitete sich aus und aus der Dunkelheit tauchten die fernen Tafelberge auf.

Tausend Meter unter den Tragflächen der Tiger verwandelte sich das monotone, milchige Grau in ein Meer von unzähligen Grüntönen.

Dann erkannte man einen wilden, rauschenden Fluss.

Und eine dunkle Lagune, die aussah wie ein riesiger von Smaragden umgebener Saphir.

Das Weiß der Reiher, das Rot der Ibisse und die glatt geschliffenen schwarzen Felsen unter den Stromschnellen wurden sichtbar.

Einen kurzen Augenblick lang fühlte sich der König der Lüfte wie der Herr über die ganze Welt.

Verzückt nahm er das herrliche Geschenk an, das die Morgendämmerung ihm darbot. Unbewusst dankte er dem Herrn für das überwältigende Schauspiel und auch dafür, dass er ihm erlaubt hatte, zu fliegen und dieses Wunder zu erleben. Er überprüfte seine Position. Er war genau da, wo er sein wollte. Den Caroní zu Füßen und in der Ferne die wunderbare Lagune von Canaima mit dem Wasserfall El Sapo, dessen schäumende Gischt bis zum Himmel wirbelte.

Keinen einzigen Grad war er vom Kurs abgekommen. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Langsam tauchte die Sonne über dem Gipfel des Cerro Venado auf und im Südosten zeichneten sich die Umrisse des AuyanTepui ab. Er kniff die Augen zusammen. Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Der leichte Morgendunst würde bald von den ersten Sonnenstrahlen vertrieben werden. Keine Spur von den üblichen dichten Wolken, die ihn so oft gezwungen hatten, umzukehren und das Weite zu suchen.

»Heute ist der Tag!«, rief er laut.

Er warf einen flüchtigen Blick auf die faszinierende Schönheit der Lagune von Canaima, drehte leicht nach Osten ab und flog den Carrao entlang, der ihn geradewegs zu den Felswänden des Tafelberges führen würde.

Eine starke Anspannung hatte ihn erfasst. Zwar hatte er bisher immer die Nerven behalten, sogar wenn seine Maschine plötzlich absackte oder er gezwungen war, unter höchster Gefahr eine Notlandung hinzulegen, doch jetzt konnte er sich kaum zusammennehmen.

Nervös rutschte er auf seinem Sitz hin und her, als säße er auf tausend Nadeln. Es war weder Angst noch Beklemmung, sondern eher eine Art Vorahnung, die ihn antrieb, der Maschine alles abzuverlangen, was sie draufhatte.

Doch selbst unter günstigsten Umständen erreichte seine Tiger nur eine Höchstgeschwindigkeit von hundertfünfzig Kilometern in der Stunde. Jimmie konnte nur beten, dass in den nächsten dreißig Minuten keine Wolke am Horizont auftauchte.

»Bleib so!«, rief er laut. »Bleib nur noch eine halbe Stunde so, wie du jetzt bist, damit ich endlich dein Gesicht erkennen kann!«

Er drehte scharf ab, nahm Kurs nach Nordwesten und gewann schnell an Höhe. Nach kurzer Zeit, die ihm jedoch wie eine Ewigkeit vorkam, war er über dem Tafelberg, der sich ihm dieses Mal von seiner besten Seite zeigte. Ein fast glatter Boden, der nur wenige Hindernisse aufwies. Braune und schwarze Erde, an manchen Stellen von der spärlichen Vegetation bedeckt, die in diesen Höhen überleben konnte.

Er überflog den Tepui von einem Ende zum anderen und versuchte, sich an irgendein Detail zu erinnern, das ihm vertraut war. Doch bald musste er sich eingestehen, dass es sinnlos war, an einem derart klaren Tag etwas wiedererkennen zu wollen, das er nur einmal, und obendrein von Wolken und Dunst verhüllt, gesehen hatte.

Er flog noch fünf Kilometer weiter und gerade als er abdrehen wollte, erkannte er plötzlich in aller Klarheit die schmale Schlucht, von der Pater Orozco berichtet hatte.