Die Teufelsschlucht!
Vor ihm lag also tatsächlich nicht ein einziger riesiger Tafelberg, sondern zwei, die nur von einer schmalen Sförmigen, fast bis zum Boden reichenden Schlucht voneinander getrennt waren.
Er flog geradewegs darauf zu und versuchte, ihre Breite abzuschätzen. Nach kurzer Berechnung kam er zu dem Schluss, dass sie genügend Platz bot, um ohne nennenswerte Gefahr hindurchzufliegen.
Der Morgen war ruhig, die Sicht grenzenlos. Es ging kaum Wind. Daher zögerte er keine Sekunde, geradewegs auf die Schlucht zuzufliegen und sich zwischen die senkrecht aufragenden Wände zu zwängen, die den majestätischen AuyanTepui von seinem kleineren, aber nicht minder imposanten Bruder ParanTepui trennten.
Zu beiden Seiten rasten die glatten Steilwände der Tepuis an ihm vorbei. In vollen Zügen kostete er den Geschwindigkeitsrausch aus. Dabei schrie er voller Begeisterung, als säße er in einer Achterbahn. Schließlich hob er die Maschine hoch, drehte nach links ab und flog in Richtung Savanne, während der ParanTepui langsam hinter ihm verschwand.
In diesem Augenblick entdeckte er ihn.
»Lieber Himmel!«, rief Jimmie.
Er hatte ihn gesehen.
Den Vater aller Flüsse!
Er war dermaßen erstaunt, verwirrt und erschrocken, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte.
»Mein Gott!« Mehr brachte er in diesem Moment nicht heraus.
Als hätte sich der Schöpfer höchstpersönlich an diesem Morgen auf die Erde begeben, um den Menschen zum ersten Mal zu zeigen, wie unnachahmlich er sein Werk vervollkommnet hatte.
Erst im letzten Augenblick, als die Wassertropfen schon auf die Windschutzscheibe spritzten und er gegen die glatte Felswand zu prallen drohte, reagierte Jimmie. Er riss die Maschine scharf nach rechts und raste im Sturzflug nach unten, selbst auf die Gefahr hin, die Tiger nicht mehr abfangen zu können und in den Baumwipfeln zu landen.
Als er wieder über der flachen Savanne war, nahm er Kurs nach Norden und drehte sich um, konnte jedoch nichts mehr erkennen.
Er atmete erleichtert auf, schüttelte heftig den Kopf, als versuche er, einen Albtraum zu verscheuchen, zog die Maschine hoch und flog in gerader Linie weiter, bis er sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Dann ließ er das, was er gerade erlebt hatte, noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren.
Irgendwo da hinten in der Teufelsschlucht wäre er um ein Haar im Schlund eines riesigen Wasserfalls gelandet, der von dem Tepui hinunterstürzte und so tief war wie kein anderer, den er je gesehen hatte.
Der Vater aller Flüsse!
Der Fluss, der einer uralten Sage nach im Himmel entsprang und stets von einem dichten Wolkenmeer verhüllt war.
Das war doch nicht möglich!
Nein! Undenkbar!
Es musste eine optische Täuschung gewesen sein, ein Traum oder gar Albtraum. Denn wie konnte es sein, dass dieser gewaltigste Wasserfall der Welt im zwanzigsten Jahrhundert noch nicht entdeckt worden war?
Jimmie drehte um, zog die Maschine höher und hielt Kurs auf die Schlucht, um genau darüber hinwegzufliegen.
Sein Herz schlug so heftig, dass er das Gefühl hatte, er würde im Cockpit hin- und hergeschaukelt.
Seine Hände zitterten.
Eiskalter Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper.
Der Gedanke, einer Fata Morgana zum Opfer zu fallen, versetzte ihn in Panik.
Es war einfach zu schön, um wahr zu sein.
Er rückte ein wenig nach rechts, um bessere Sicht zu haben, drosselte die Geschwindigkeit, während er gleichzeitig darauf achtete, nicht unter achtzig Stundenkilometer zu fallen, da er sonst schnell an Höhe verlieren würde, und überflog so langsam wie möglich die Schlucht.
Da war er!
Es war doch keine Sinnestäuschung gewesen.
Das Plateau war eigentlich nicht besonders groß, hatte aber die Form eines riesigen flachen Tellers, sodass während der Regenzeit, wenn Unmengen Wasser darauf niedergingen, ein gewaltiger Fluss entstand, dessen Fluten im freien Fall hinab ins Tal stürzten.
Auf halbem Weg breitete sich der dichte Strahl dann fächerförmig aus und bildete eins der gewaltigsten und eindrucksvollsten Spektakel, das man auf der Erde je gesehen hatte.
Jimmie Angel, König der Lüfte, brauchte einige Zeit, um sich zu fangen und sich darüber klar zu werden, dass er soeben eines der meistgehüteten Geheimnisse der Natur gelüftet hatte.
Er hatte den höchsten Wasserfall der Welt entdeckt und sich damit bis in alle Ewigkeiten ein Denkmal gesetzt.
An jenem 25. März des Jahres 1935 ging sein Name in die Geschichte ein.
Dritter Teil
»Tausend Meter?«
»Tausend Meter.«
»Wie können Sie so sicher sein, dass es genau tausend sind?«
»Weil ich zuerst dicht über den Wipfeln der Bäume flog und später auf der Höhe der beiden Tepuis, und der Höhenmesser hat mir einen Unterschied von exakt tausend Metern angezeigt.«
»Sie wollen doch nicht ernsthaft behaupten, Sie hätten den höchsten Wasserfall der Welt entdeckt?«, fragte der Journalist skeptisch.
»Das ist keine Behauptung, sondern eine Tatsache«, erklärte Jimmie mit Engelsgeduld. »Ich habe ihn gesehen und gemessen. Er befindet sich im Nordwesten des AuyanTepui, in der Teufelsschlucht, die ihn vom ParanTepui trennt. Und wenn mein Höhenmesser nicht völlig verrückt spielt, ist er tausend Meter hoch.« Er zuckte die Achseln. »Selbst wenn er nicht ganz so hoch wäre, bliebe er mit Abstand der höchste auf der Welt.«
»Wie kommt es dann, dass ihn noch nie jemand gesehen hat?«
»Das müssen Sie nicht mich fragen, sondern diejenigen, die ihn übersehen haben. Jeder in der Gegend kennt die Legende, die besagt, dass es dort einen riesigen Fluss geben soll, der in den Wolken am Himmel entspringt.«
»Sie meinen den Vater aller Flüsse?« Als der Pilot schweigend nickte, bohrte der Reporter weiter. »Und Sie sind davon überzeugt, dass Sie den Ursprung dieser Legende aufgedeckt haben?«
»Ich glaube ja.«
»Haben Sie irgendwelche Dokumente, mit denen Sie das belegen können?«
»Dokumente?«, wiederholte der König der Lüfte verwundert. »Was meinen Sie damit? Dort oben gab es niemanden, der mir ein Dokument hätte ausstellen können.«
»Ich dachte eher an Fotos.«
»Ich habe keine Kamera an Bord«, lautete die schlichte Antwort. »Und ich bin sicher, dass ich sie nicht benutzt hätte, wenn ich eine dabeigehabt hätte. Ich war so überwältigt, dass ich an nichts denken konnte.«
»Hatten Sie getrunken?«
»Getrunken?«, wiederholte Jimmie sichtlich verärgert. »Was zum Teufel wollen Sie damit sagen? Ich erzähle Ihnen, dass sich in Ihrem Land der höchste Wasserfall der Welt befindet, und Sie fragen mich, ob ich betrunken war? Es ist wohl besser, wenn wir dieses Gespräch beenden.«
»Ich finde es nur erstaunlich, dass ein Nordamerikaner kommen muss, um etwas zu entdecken, das kein Venezolaner je hier vermutet hätte.«
»Ich sagte Ihnen doch, dass es gewisse Gerüchte gab. Nur hat sich kein zivilisierter Mensch je die Mühe gemacht, ihnen nachzugehen.«
»Und warum gerade Sie?«
»Vielleicht weil ich der erste Pilot bin, der es gewagt hat, über die Lagune von Canaima hinaus weiter in den Süden vorzustoßen.«
»Vielleicht auf der Suche nach einer Gold- und Diamantenmine?«
»Schon möglich.«
»Die sagenhafte Mine des Schotten?«
»Sagen und Legenden sind nichts weiter als Auswüchse der Phantasie, aber diese Ader ist kein Luftschloss, sondern eine Tatsache. Ich war 1921 dort.« Jimmie zog an seiner Pfeife und nahm sich zusammen, um den lästigen Reporter der einzigen venezolanischen Nachrichtenagentur in Ciudad Bolívar nicht vor den Kopf zu stoßen. »Ja, es stimmt, ich war auf der Suche nach einer Mine, aber Tatsache ist, dass ich dabei auf diesen Wasserfall gestoßen bin. Und ob es Ihnen passt oder nicht, ab heute wird dieser Wasserfall Jimmie Angel heißen. Diesen Verdienst wird mir niemand streitig machen können. Außerdem waren Sie es, der um ein Interview gebeten hat. Wenn Sie kein Interesse haben, die Nachricht in der Welt zu verbreiten, wird es jemand anders tun.«