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»Wann werden Sie mir ein Foto von diesem Salto Jimmie Angel beschaffen, mit dem ich meine Story belegen kann?«

»Sobald es aufhört zu regnen oder ein mutiger Fotograf, der seinen Beruf liebt, es wagt, zu Fuß bis dorthin zu marschieren. Man muss lediglich dem Caroní bis zur Lagune von Canaima folgen, dann in Richtung Südosten entlang des Carrao und anschließend dem Churún Merú folgen, der von Süden kommt. Die Quelle dieses Flusses ist in Wirklichkeit ein Wasserfall, der vom AuyanTepui hinunterstürzt.«

»Eine weite Reise.«

»Ja, das stimmt.« Der König der Lüfte nickte. »Eine Reise, die bislang noch keiner unternommen hat. Allerdings habe ich gehört, dass ein Spanier namens Félix Cardona und sein Freund Juan Mundó vor etwa acht Jahren knapp an der Teufelsschlucht vorbeimarschiert sind. Aber das war während der Trockenzeit, wenn der Churún Merú kaum Wasser führt und nicht befahrbar ist. Dann wird der Wasserfall natürlich kaum auffallen.«

»Anscheinend haben Sie mehr Glück gehabt.«

»Wenn man Hunderte von Stunden ein so gut wie unerforschtes Gebiet in sämtlichen Richtungen überflogen hat, kann man nicht von Glück sprechen, wenn man eines Tages auf etwas stößt. Ich finde es nur logisch.«

An diesem Abend, nachdem er ohne großen Appetit gegessen hatte, legte sich Jimmie in die Hängematte auf der Veranda. Hier draußen wehte eine frische Brise. Während er sacht hin- und herschaukelte, fragte er Mary: »Warum hat sich der Kerl bloß solche Mühe gegeben, mich zu diskreditieren oder als Schwindler abzustempeln? Ich war überzeugt, dass die Venezolaner froh und stolz sein müssten. Immerhin befindet sich in ihrem Land eins der schönsten Naturwunder der Welt. Und jetzt scheint es fast so, als hätte ich sie beleidigt.«

»Nicht alle haben so reagiert«, entgegnete seine Frau, während sie den Zucker im Kaffee verrührte. »Die meisten sind überglücklich, sie haben dich von ganzem Herzen beglückwünscht. Aber ein einziger übel gesinnter Reporter kann mehr Schaden anrichten als tausend anständige Menschen.« Sie reichte ihm den Kaffee wie einem Kind, das gefüttert werden muss. »Du hast keinen Grund, dir Sorgen zu machen«, fuhr sie fort. »Der Salto Jimmie Angel liegt genau da und ist exakt so hoch, wie du behauptet hast. Sobald der Regen nachlässt, können alle Reporter, Fotografen und Wissenschaftler auf der Welt sich davon selbst überzeugen. Die Wahrheit setzt sich immer durch, egal, was irgendwelche Dorftrottel behaupten.«

»Das kann noch Monate dauern«, jammerte Jimmie. »Als ich das Gebiet zum letzten Mal überflogen habe, war die Sicht so schlecht, dass man keinen Kilometer weit sehen konnte.«

»Es ist nur eine Frage der Geduld.«

»Geduld!«, erwiderte er verbittert. »Bald werden fünfzehn Jahre vergangen sein, seit ich auf dem Tepui gelandet bin. Fünfzehn Jahre! Und die ganze Zeit träume ich davon, wieder hinzukommen, mich auf diese Klippen zu setzen und zu beobachten, wie der Mond sein Licht über den Dschungel gießt. Ganz abgesehen davon, dass ich in einem kleinen Bach gern den Schatz finden würde, auf den ich ein moralisches Anrecht habe. Meinst du nicht, dass ich schon lange genug Geduld aufgebracht habe?«

»Ja, aber das ist nicht dasselbe«, beschwichtigte sie ihn. Dann setzte sie sich neben ihn, nahm seine Hand und begann, ihm vorsichtig die Fingernägel zu schneiden. »Jetzt jagst du nicht mehr hinter einer Schimäre her. Jetzt ist es eine Tatsache, in jeder Hinsicht unwiderlegbar. Heutzutage zweifelt niemand mehr an der Existenz von Iguaçu, aber als Cabeza de Vaca die Wasserfälle zum ersten Mal erwähnte, hielt man ihn für verrückt.«

»Cabeza de Vaca?«, fragte ihr Mann überrascht. »Cabeza de Vaca war doch der Spanier, der den Mississippi und den Grand Canyon entdeckte. Er hat mit den IguaçuWasserfällen gar nichts zu tun.«

»Entschuldigen Sie vielmals, Herr von Schlaukopf«, fiel ihm seine Frau ins Wort und schüttelte heftig den Kopf, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Schon möglich, dass Eure Exzellenz der König der Lüfte ist, aber von den Dingen auf der Erde habt Ihr wirklich keine Ahnung. Álvaro Núñez Cabeza de Vaca war nicht nur der erste Europäer, der den gesamten nordamerikanischen Kontinent zu Fuß überquert hat, von einer Küste zur anderen, und dabei unzählige Entdeckungen gemacht hat, sondern er wurde Jahre später auch zum Gouverneur von Paraguay ernannt. Auf einer seiner zahlreichen Expeditionen stieß er auf die Wasserfälle von Iguaçu.«

»Donnerwetter! Ist das wahr?« Als seine Frau nur schweigend nickte, gestand Jimmie: »Das habe ich nicht gewusst.«

»Die Spanier von damals hatten noch Mumm. Ich weiß es, weil meine Großmutter mütterlicherseits Spanierin war und mir viel über ihre Vorfahren erzählt hat.« Sie lächelte. »Und falls es dir ein Trost ist, kann ich dir auch sagen, dass Cabeza de Vaca keiner seiner vielen Entdeckungen seinen Namen gab.«

»Warum nicht?«

»Weil die spanischen Entdecker das normalerweise nicht taten. Es gibt keine Wasserfälle, die nach Cabeza de Vaca benannt sind, und auch keine einzige Stadt, die Francisco Pizarro oder Hernán Cortés heißt.«

»Dafür aber ein ganzes Meer«, hielt ihr Mann dagegen.

»Den Namen gab man ihm erst viel später, als Hernán Cortés schon lange tot war. Die wahren Entdecker respektierten die Namen, die ihnen von den Einheimischen gegeben worden waren, oder tauften Städte und Landschaften nach den Heiligen ihres eigenen Landes oder ihren Königen. Niemals aber nach sich selbst.«

»Das habe ich nicht gewusst.«

»Tja, aber so ist es. Franzosen, Engländer und die Deutschen scheinen geradezu versessen darauf, Inseln, Berge oder Städte nach ihren Entdeckern zu nennen. Spanier oder Lateinamerikaner tun das im Allgemeinen nur selten.«

»Und worauf führst du das zurück?«, wollte ihr Mann wissen. »Weil sie zu bescheiden sind?«

»Eher wohl zu missgünstig«, erklärte Mary Angel. »Wenn du diesem Wasserfall deinen Namen gibst, werden die meisten Menschen auf der Welt das richtig finden. Du hast ihn entdeckt, also verdienst du, dass man ihn nach dir benennt. Die Lateinamerikaner aber werden daran Anstoß nehmen. Weil sie missgünstig sind. Und wenn ich mir deinen Namen ansehe, so fürchte ich, dass der Wasserfall mit der Zeit nicht Salto Jimmie Angel heißen wird, sondern nur Salto Angel, um deinen Ruhm in Grenzen zu halten.«

Eine Weile breitete sich Stille aus, als dächte der Pilot über das soeben Gehörte nach. Schließlich sagte er niedergeschlagen: »Das ist traurig.«

»Ja«, gab sie zu. »Aber im Grunde genommen müssen wir froh sein, dass es so ist.«

»Warum?«

»Hätten die Spanier damals, als sie die Welt beherrschten, zusammengehalten und sich gegenseitig geholfen, statt sich aus Habgier und Neid gegenseitig zu bekämpfen, gäbe es heute eine Supermacht, die sich von Alaska bis Feuerland erstrecken und in der man nur eine Sprache sprechen würde: Spanisch.«

»Du kannst einen wirklich überraschen«, antwortete Jimmie ohne jede Ironie. »Immer wieder versetzt du mich in Staunen. Ich hätte niemals gedacht, dass du dich für solche Dinge interessierst.«

»Was glaubst du eigentlich, was ich tue, wenn du zwei oder drei Tage hintereinander wegbleibst?«, fragte seine Frau. »Ich lese, lerne Spanisch und informiere mich über die Geschichte und die Bräuche der Leute hier. Ich versuche herauszufinden, warum sie in so vieler Hinsicht anders denken als wir…« Sie machte eine ausholende Bewegung, die alles, was sie umgab, einschloss. »Die Hausarbeit erledigt sich quasi von selbst«, fuhr sie fort. »Und wenn ich nicht den Verstand verlieren will, weil ich ständig an all die Dinge denken muss, die dir zustoßen könnten, muss ich den Geist beschäftigen.«