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»Ich will mir etwas Geld verdienen, indem ich Leute zu den Wasserfällen fliege. Auf diese Art kann ich in Ruhe abwarten, bis der Boden trocken genug ist, um auf dem Tepui zu landen.«

»Bist du immer noch davon überzeugt, dass der AuyanTepui McCrackens Berg ist?«

»Er muss es sein.«

»Warum?«, bohrte der Spanier nach.

»Weil es der einzige Tafelberg ist, der genau an der Stelle liegt, die der Schotte mir genannt hat.«

»Aber hundertprozentig sicher bist du nicht, oder?«

Jimmie antwortete auf diese heikle Frage nicht gleich. Zu lange war es her, seit er mit dem Schotten auf einem wolkenverhangenen Tafelberg gelandet war. Leider glichen sie sich wie ein Ei dem anderen, wenn sie in dem Meer von Wolken schwammen. Dieselbe Höhe, dieselben wie mit einem Messer gezogenen schwarzen Felsenwände im grünen Urwald, durch den sich hin und wieder kurvenreiche Flüsse schlängelten. Die gleiche Einsamkeit und der gleiche Wind…

War der Tafelberg, an dem der mittlerweile nach ihm benannte höchste Wasserfall der Welt entsprang, wirklich derselbe, auf dem er vor langer Zeit mit dem Schotten gelandet war?

Es war eine Frage, die er sich seit dem Tag gestellt hatte, an dem er zum ersten Mal die Teufelsschlucht überflogen und durch Zufall den majestätischen Wasserfall entdeckt hatte.

»Nein, sicher bin ich nicht«, sagte er nachdenklich. »Vieles trifft zu, anderes nicht. McCracken erkannte den Tafelberg auf den ersten Blick, vermutlich, weil er Zeit genug gehabt hat, ihn während des Aufstiegs zu studieren. Ich hingegen nahm ihn erst in dem Augenblick richtig wahr, als wir landeten. In meinem Kopf schwirren zu viele verwirrende Erinnerungen herum.«

»Du glaubst also immer noch an McCrackens Worte, nicht wahr?« Als Jimmie stumm nickte, fügte Cardona hinzu: »Und wenn er sich geirrt hat?«

»Das glaube ich nicht. Er wusste genau, wo sich sein Berg befand, und hat ihn damals auch sofort wiedererkannt. Seine Angaben waren klar und präzise: dreihundert Kilometer südlich des Orinoco und fünfzig östlich des Caroní.« Der Amerikaner zündete seine Pfeife an. Vielleicht half ihm der Rauch, einen klaren Gedanken zu fassen, oder besaß die Fähigkeit, die trüben Gedanken zu vertreiben. »Mit diesen Koordinaten kann es eigentlich nur der AuyanTepui sein«, schloss er mit fester Stimme, als müsste er sich selbst überzeugen.

Félix Cardona drehte sich zu Mary um, die entgegen ihrer Gewohnheit bislang noch kein einziges Wort gesagt hatte.

»Was meinst du?«, fragte er.

»Ich will lieber keine Meinung haben«, antwortete sie aufrichtig. »Das Ganze begann vor meiner Zeit und außerdem glaube ich, dass nur Jimmie genügend Kenntnisse hat, um sich einen Reim darauf zu machen. Trotzdem könnte ihm die Erinnerung nach so langer Zeit einen Streich spielen. Nur er kann entscheiden.«

Cardona nickte. »Na gut. In diesem Fall sollten wir ein Lager in der Nähe des Tafelbergs aufschlagen und ihn unter die Lupe nehmen.«

»Genau das hatten wir auch vor.«

»Habe ich mir gedacht. Meiner Meinung nach wäre der geeignetste Ort dafür das CamarataTal etwa zwanzig Kilometer südöstlich des Tepui. Der Boden ist fest und wird normalerweise nicht allzu morastig.«

»Hast du etwa für uns vorgearbeitet?«, fragte der König der Lüfte grinsend.

»Na klar!«, antwortete Cardona wie aus der Pistole geschossen. »Ich hab doch gesagt, dass ich dir helfen würde, sobald du kommst. Außerdem muss ich dir gestehen, dass mich dieser Tepui fasziniert, Diamanten hin, Diamanten her. Er ist wie eine viel zu hübsche Frau, von der man weiß, dass sie einem nie gehören wird, die man aber nicht aus dem Kopf bekommt.«

»Hast du versucht hinaufzuklettern?«

Cardona schüttelte den Kopf.

»Ich bin oft mit Henry da gewesen, aber wir haben noch keine Stelle gefunden, an der wir ihn erklimmen könnten. Genau das ist es, was mich stutzig macht. Ich verstehe nicht, wie der Schotte es geschafft haben soll, wenn es nicht einmal El Cabullas gelingt.«

Gustavo Henry, alias El Cabullas, war damals nicht nur der berühmteste Bergsteiger in Venezuela, sondern auf dem ganzen südamerikanischen Kontinent. Er hatte die meisten Gipfel der Anden bezwungen. Die Tatsache, dass er trotz seiner allgemein anerkannten Fähigkeiten und seiner Erfahrung keine einzige Stelle gefunden hatte, an der er die imposante tausend Meter hohe Felswand des Berges hätte besteigen können, nährte natürlich Cardonas Zweifel an dem ohnehin recht ominösen Unternehmen.

All Williams und John McCracken waren jahrelang durch den Dschungel und die Berge marschiert und mussten völlig erschöpft am Fuß des Berges angekommen sein. Sie hatten auch nicht über die Ausrüstung verfügt, um eine derart schwierige Steilwand zu erklimmen. Es schien daher äußerst unwahrscheinlich, dass es ihnen gelungen sein konnte, einen Berg zu besteigen, bei dem ein Profi wie Gustavo Henry das Handtuch hatte werfen müssen.

»Irgendwas stimmt da nicht«, murmelte Félix Cardona jedes Mal, wenn einer auf das Thema zu sprechen kam. »Juan Mundó und ich sind gescheitert, El Cabullas hat aufgegeben und alle, die den Berg sehen, erklären ihn für unbezwingbar. Wieso haben es die beiden dann geschafft?«

»Wahrscheinlich waren sie harte Burschen und haben fest daran geglaubt, dass es da oben Gold und Diamanten zu holen gibt.«

»Und wer hat ihnen das ins Ohr geflüstert?«, fragte Cardona. »Mir will einfach nicht in den Kopf, dass ausgerechnet diese beiden da oben gewesen sein sollen, obwohl es heißt, dass kein Mensch es je geschafft hat, diesen Tepui zu bezwingen.«

Der König der Lüfte antwortete nicht, aber nachts lag er wach im Bett und wälzte sich hin und her. Die Frage ließ ihn nicht los. Wie zum Teufel hatten es All Williams und John McCracken geschafft, die glatte Steilwand zu bezwingen? Waren sie etwa Übermenschen gewesen? Oder hatte Cardona doch Recht, und sie waren auf einen der unzähligen anderen Berge gestiegen, die sich im Escudo Guayanés erheben?

Gesetzt den Fall, dass es so wäre, welcher mochte es dann sein?

Nicht der ParanTepui, dessen war er sicher.

Auch nicht der nahe gelegene KurúnTepui oder der KurawainaTepui, deren Oberflächen völlig anders beschaffen waren.

Der KusariTepui und der Cerro Venado wären infrage gekommen, hätten sie nicht so nah an den beiden anderen gelegen. Er hätte sie in der klaren Nacht, die er auf dem Gipfel verbracht hatte, bemerken müssen. Doch er war sicher, dass er sie nicht gesehen hatte.

Nachdem er einen nach dem anderen ausgeschlossen hatte, blieb nur diese eine Möglichkeit übrig. Der Berg, aus dem der Vater aller Flüsse entsprang und den die Einheimischen Teufelsberg nannten. Er musste sich damit abfinden, dass die beiden verrückten Abenteurer es offenbar tatsächlich geschafft hatten, einen Aufstieg zu entdecken, den jetzt niemand fand.

Zwei Wochen später schlugen Jimmie und Mary Angel, Félix Cardona, Gustavo Henry, genannt El Cabullas, und ein einheimischer Bergsteiger namens Miguel Delgado ein provisorisches Lager in der CamarataEbene auf. Es lag fast im Schatten des dunklen Teufelsfelsen und sollte ihnen als Ausgangsbasis dienen. In den kommenden Wochen würden sie sich darauf konzentrieren, alle Zweifel auszuräumen, um einwandfrei festzustellen, ob jener Berg tatsächlich derjenige war, auf dem er vor sechzehn Jahren mit McCracken und der klapprigen Bristol Piper gelandet war.

Außerdem wollten sie erkunden, welchen Aufstieg die beiden wahnsinnigen Ausländer vor mehr als zwanzig Jahren benutzt haben konnten.

Mehrmals flogen sie dicht über den Tepui und dann durch die Teufelsschlucht. Sie kamen den steilen Felswänden gefährlich nahe, während sie Hunderte von Fotos schossen. Tagelang marschierten sie zu Fuß um den Tepui, auf der Suche nach dem geheimnisvollen Aufstieg. Nach langen Diskussionen gelangten sie immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Gewissheit gab es nicht.