Ein Schwarm von roten Ibissen erhob sich in die Luft, wie lodernde Flammen, die über den grünen Mantel des Dschungels leckten.
Sie zogen nach Norden.
Im gleichen Augenblick kam ihnen von Osten eine Schar träger weißer Fischreiher entgegen.
Die Ibisse flogen über die Reiher hinweg, deren lange Beine fast die Wipfel der Bäume streiften.
Nicht der Schatten eines Falken oder Adlers.
Nicht einmal ein Rabengeier.
Und noch höher, ganz oben, die mächtige Silhouette der Flamingo, deren Dröhnen den Frieden einer an Stille gewöhnten Welt störte.
Der Pilot nahm Kurs auf die Teufelsschlucht.
Auf halber Höhe flog er hinein und steuerte direkt auf den Wasserfall zu, als wollte er dem Berg seine Ehrerbietung erweisen oder um Vergebung bitten, dass er seinen heiligen Gipfel schänden würde.
Hundertmal hatten sie den Wasserfall gesehen, doch immer wieder waren sie aufs Neue beeindruckt. Vor allem aber an diesem klaren wolkenlosen Morgen, an dem das Wasser träger als sonst zu fallen schien. Als hielte es einen Augenblick inne, bevor es sich auf die Palmen im Tal hinabstürzte, die zeit ihres Lebens das Gesicht zum Himmel erhoben, als warteten sie nur darauf, sich von der feinen Gischt des Wasserfalls erfrischen zu lassen.
Nachdem sie sich an diesem Naturwunder satt gesehen hatten, überflog Jimmie mehrmals das Plateau, bis er schließlich entschieden hatte, an welcher Stelle er landen würde.
»Gut!«, sagte er. »Jetzt hilft nur noch beten!«
Er drehte die Maschine leicht nach links, flog einen weiten Bogen und näherte sich dem Tepui von Nordosten her. Dazu sang er sein altes spanisches Lieblingslied:
Die Maschine raste geradewegs auf die Wand des Tafelberges zu, neben dem sie nicht mehr als eine Staubflocke war. Zu Tode erschrocken beobachteten die Passagiere, wie die mächtige Bergwand immer näher kam. Und der Pilot schien mehr darauf bedacht zu sein, seinem Ruf als waghalsigem Flieger Ehre zu machen, als dem scheinbar unausweichlichen Aufprall entgegenzusteuern.
Vierhundert Meter trennten sie von dem sicheren Tod.
Dreihundert.
Zweihundert.
Hundert — und dann flogen sie knapp über den Rand des Plateaus.
Als die Maschine kaum noch Luft unter sich hatte, sackte sie plötzlich ab, doch der erfahrene Pilot fing sie sofort auf und setzte dann unendlich behutsam auf einer glatten Ebene auf, wo sie ungehindert ausrollen konnte.
Jimmie schaltete den Motor ab.
Fünfzig Meter…
Alles okay!
Hundert…
Alles okay!
Hundertfünfzig…
Alles okay!
Zweihundert…
Alles okay!
Doch dann, als sie am wenigsten damit rechneten, gab der Boden unter ihnen nach und die Räder versanken in tückischem Morast. Nur dessen Oberfläche war von der Sonne ausgetrocknet. Wie eine Fliege im Honig blieb die schwere Flamingo im Sumpf stecken.
Bei der unerwarteten Vollbremsung wurden alle nach vorn geschleudert und fielen laut schreiend durcheinander.
Dann folgte panische Verwirrung, bis Jimmie feierlich fragte: »Ist jemand verletzt?«
Niemand hatte ernsthafte Blessuren davongetragen, aber als sie aus der Maschine sprangen und bis zu den Knien im sumpfigen Boden versanken, mussten sie entsetzt feststellen, dass das Fahrwerk völlig hin war.
Mit dem Schrecken in den Gliedern und blauen Flecken am ganzen Körper zogen sie sich an eine Stelle zurück, wo der Boden fester war, um zu beratschlagen.
»Wie siehst du unsere Lage?«, fragte Henry nach einer Weile.
»Nicht gerade rosig«, antwortete Jimmie offen. »Selbst wenn es uns gelänge, das Fahrwerk zu reparieren, glaube ich nicht, dass wir die Maschine aus dem Sumpf herausbekommen.«
»Bist du sicher?«, hakte seine Frau nach.
»Ich fürchte ja.«
»Du hast schon schlimmere Probleme gelöst.«
»Ich habe immer damit geprahlt, alle Maschinen der Welt reparieren zu können«, gab Jimmie zu. »Aber das hier ist etwas anderes. Dieses Flugzeug ist zu schwer. Um es aus dem Sumpf zu ziehen, bräuchten wir einen Kran.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Offenbar mussten sich alle an die Vorstellung gewöhnen, dass sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten und sie nun auf dem Gipfel des Tepui gefangen waren.
Auf Hilfe von außen konnten sie nicht hoffen. Niemand würde es wagen, auf dem Tepui zu landen, wenn er sah, welch verheerende Konsequenzen dies nach sich ziehen konnte. Und von ihrem Lager, das dreihundert Kilometer von der nächstgelegenen Stadt entfernt war, trennte sie eine tausend Meter hohe Steilwand.
»Was machen wir bloß?«, fragte Mary nervös.
»Auf jeden Fall die Ruhe bewahren«, antwortete der Pilot. »Hier gibt es Wasser im Überfluss und wir haben genug Proviant für eine ganze Woche dabei.« Er deutete mit dem Kinn auf ihre beiden Gefährten, die keine drei Meter weiter saßen. »Sie werden uns schon hier runterbringen.«
Mary wandte sich an Henry.
»Kannst du das?«
»Wenn ich es auf den Aconcagua geschafft habe, werde ich auch von hier wieder runterkommen«, beschwichtigte er sie.
»Daran zweifle ich nicht«, gab sie zurück. »Aber ich meinte nicht, ob du es schaffst, sondern ob du dir zutraust, auch uns runterzubringen.«
»Das hängt von euch ab. Wenn ihr die Nerven behaltet, können wir es schaffen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr!«
»Nicht Gott muss mich erhören, sondern du«, ermahnte Henry sie. »Ich bin sicher, dass Jimmie Gefahren ins Auge sehen kann. Aber wenn du im ungeeigneten Moment die Nerven verlierst, könntest du uns alle mit in den Tod reißen.« Er machte eine bedeutungsschwere Pause. »Tut mir Leid, wenn ich dir das sagen muss, aber vermutlich wird es eher von dir abhängen, ob es gelingt, als von mir.«
»Ja, du hast Recht und ich verspreche, mein Bestes zu geben.«
Henry, genannt El Cabullas, nickte mehrmals. Dann stand er auf und machte seinem Kollegen ein Zeichen, ihm zu folgen.
»Na schön. Ich glaube, wir sollten uns an die Arbeit machen. Wir suchen eine Stelle, an der wir uns abseilen können, und ihr sucht das Gold und die Diamanten.«
»Wie lange werdet ihr brauchen?«
»Ein paar Tage, vielleicht auch länger«, lautete die unbestimmte Antwort. »Zuerst werden wir in Richtung Süden marschieren, um Cardona zu signalisieren, dass wir noch leben. Wo hast du den Spiegel?«
»Im Rucksack.«
Henry und Delgado kehrten zur Maschine zurück, warfen sich ihre Seile um die Schultern, steckten etwas Proviant ein und nahmen den Spiegel aus dem Rucksack. Dann umarmten sie ein letztes Mal Jimmie und Mary, die einsam und verlassen am Ende der Welt zurückbleiben würden.
»Vertraut uns!«, war das Einzige, was sie ihnen sagen konnten. »Wir holen euch hier schon runter.«
Ohne Eile marschierten sie Richtung Süden los, bis sie nur noch zwei winzige Punkte am Horizont waren.
»Ich vertraue darauf, dass Gott ihnen beisteht«, sagte Mary. Als sie keine Antwort erhielt, warf sie einen Blick auf das bleiche Gesicht ihres Mannes.
»Was hast du?«, fragte sie besorgt.
»Mein Knie tut weh«, antwortete Jimmie mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Die alte Wunde. Aber das ist es nicht, was mir Sorgen macht…« Er sah ihr in die Augen. »Wirst du mir verzeihen?«
»Dir verzeihen?«, wiederholte sie erstaunt. »Was denn?«