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Die Wahl des Ortes war eine verspätete Hommage an den Piloten Jimmie, der an einem Morgen des Jahres 1935 genau von dieser Landebahn in die Unsterblichkeit gestartet war.

Dort steht das Flugzeug bis heute.

Zwei Tage später tauchten Henry und Delgado endlich am Horizont auf.

Erschöpft ließen sie sich auf die Sitze fallen, die Jimmie unter den Tragflächen der Maschine im Schatten aufgestellt hatte. Schließlich sahen sie zu den beiden auf, die sie vom Innern des Flugzeugs aus erwartungsvoll musterten.

»Schlechte Nachrichten!«, sagte Henry schließlich. »Wir haben zwar eine Spalte im Felsen gefunden, an der wir uns dreihundert Meter tief abseilen könnten, aber wir konnten nicht sehen, was sich darunter befindet.«

»Und?«

»Das Hauptproblem ist, dass wir irgendwann an einen Punkt gelangen könnten, von dem aus es nicht mehr weitergeht. Dann säßen wir fest und könnten weder vor- noch rückwärts.«

»Ich dachte, ihr seid professionelle Bergsteiger?«

»Das sind wir auch«, versicherte Henry. »Aber das hier ist keine gewöhnliche Bergwand. Sie ist so glatt, als hätte man sie mit einem Messer gezogen, und an manchen Stellen gibt es sogar Überhänge.«

»Was soll das heißen?«, fragte Mary besorgt.

»Die Wand wölbt sich so stark nach innen, dass Vorsprünge entstehen, von denen man wie ein Stück Blei am Seil über dem Abgrund baumelt.«

»Großer Gott!«

»Mit einer Spezialausrüstung wäre es kein Problem«, warf Delgado ein, der es ansonsten vorzog zu schweigen. »Aber mit dem, was uns zur Verfügung steht, sehe ich ziemlich schwarz. Wenn wir erst einmal mit dem Abstieg begonnen haben, wird es kein Zurück mehr geben. Dann müssen wir bis zum Äußersten gehen.«

Niemand fragte nach, was mit »bis zum Äußersten« gemeint war. Allen war bewusst, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als sich in die Tiefe zu stürzen, wenn sie an irgendeiner Stelle nicht weiterkamen.

Es wurde ziemlich still, während jeder für sich darüber nachdachte, wie er selbst wohl in diesem Fall reagieren würde. Schließlich brach Henry das Schweigen.

»Du musst jetzt entscheiden, was wir machen sollen, Jimmie.«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Ich habe das Kommando gehabt, bis wir in die Schlammfalle geraten sind«, erwiderte er. »Jetzt bist du an der Reihe.«

»Aber es geht um dein Leben«, entgegnete Henry. »Und das deiner Frau. Delgado und ich sind derartige Situationen gewohnt, wenn auch nicht ganz so schwierige.« Er seufzte frustriert. »Und diese ist verdammt übel, das kannst du mir glauben.«

»Nicht so übel wie zu verhungern. Hier oben gibt es nur Kröten und Frösche und ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass wir ein Leben lang davon satt werden könnten.«

»Nicht ein Leben lang, aber lange genug, bis wir den Abstieg wagen. Wir müssen die Vorräte einteilen und so viel Wasser wie möglich mitnehmen. Der einzige Weg nach unten führt über Geduld.«

»Wie lange werden wir brauchen?«, fragte Mary.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, antwortete der andere mit schmerzhafter Offenheit. »Eine Woche vielleicht. Vielleicht auch zwei. Weiß der Kuckuck!«

»Das gibt es doch nicht!«, rief Mary entsetzt. »Heißt das etwa, dass wir unter Umständen eine Woche an einem Seil über dem Abgrund baumeln müssen?«

»Wenn wir Glück haben.«

»Das halte ich nicht durch!«

»Es ist dein Leben, Mary«, erklärte Henry in einem seltsamen Tonfall. »Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen. Wenn du überleben willst, musst du dich allmählich mit der Vorstellung anfreunden, dass du auf einem winzigen Felsvorsprung schlafen wirst, wenn wir überhaupt einen finden.«

»Mein Gott, da hilft ja nur noch beten!«

»O ja. Bete zu Jesus, Maria, Josef, den Aposteln Petrus und Paulus und vor allem zum Heiligen Christophorus, dem Schutzheiligen der Reisenden. Er wird uns den Weg weisen. Wenn sie uns nicht helfen, sind wir zum Tode verurteilt.« Machtlos hob er die Hände zum Himmel. »Denk darüber nach und entscheide.«

»Was gibt es da nachzudenken?«, antwortete Mary niedergeschlagen. »Wenn ich beschließe, hier zu bleiben, wird mein halsstarriger Mann ebenfalls bleiben wollen. Und so einen grausamen Tod kann ich ihm nicht zumuten.« Sie kletterte aus der Kabine und sagte: »Also los, bringen wir es hinter uns, je schneller, desto besser!«

Sie nahmen alles mit, was ihnen beim Abstieg möglicherweise von Nutzen sein könnte, einschließlich des Wassertanks aus der Maschine und der Stahlseile, mit denen das Seitenleitwerk gesteuert wurde. Dann brachen sie langsamen Schrittes und bepackt wie Mulis Richtung Südosten auf.

Am späten Nachmittag schlugen sie am Ufer einer Lagune, die von unzähligen Fröschen bevölkert wurde, ihr Lager auf. So kam es, dass sie sich am Abend ein schmackhaftes Reisgericht mit Froschschenkeln genehmigen konnten, das Mary besonders scharf mit Pfefferschoten würzte.

Im Schein des kleinen Lagerfeuers tranken sie Kaffee und legten sich anschließend hin, um das sternenflimmernde Firmament zu betrachten, das ihnen das Gefühl gab, direkt vor den Toren zum Himmel zu stehen.

Im Handumdrehen wurden sie von der Müdigkeit überwältigt. Noch vor dem Morgengrauen waren sie wieder auf den Beinen und setzten ihren Marsch fort. Zwei Stunden später gelangten sie zu einem Felsen, von dem aus die Landepiste und ihr winziges Lager im CamarataTal in der Ferne sichtbar waren.

Die provisorischen Lehmwände und das Strohdach kamen ihnen vor wie ein unerreichbares Paradies. Mutlosigkeit breitete sich unter ihnen aus. Erst als Cardona von unten ihre Lichtsignale erwiderte, fanden sie ein bisschen Trost. Einen Menschen zumindest gab es auf dieser Welt, der sich an sie erinnerte.

Doch der Spanier, der allein im Zentrum der Gran Sabana ausharrte, mindestens einen Tagesmarsch von der nächstgelegenen Ortschaft, der Mission in Kawanayen entfernt, konnte nichts für sie tun. Trotzdem hielt er die Stellung, denn er wusste, wie ungewiss das Schicksal war, das seine vier unglücklichen Freunde oben auf dem Berg erwartete.

Diese verbrachten den größten Teil des Vormittags damit, an der Klippe des Tafelbergs entlangzuwandern, bis Henry mit einer leichten Kopfbewegung auf eine etwa ein Meter breite Spalte zeigte, die wie eine tiefe Narbe in der Felswand klaffte. Als hätte ein Titan dem Berg mit einem Messer das Gesicht aufgeschlitzt.

»Da ist es«, sagte er.

Jimmie kroch auf dem Bauch bis zum Rand und warf einen Blick hinunter.

Fast hätte er sich übergeben.

Die Spalte ähnelte einem Kaminschacht, dessen Vorderseite offen stand und der dreihundert Meter weiter unten in einem Vorsprung endete.

Minutenlang verharrte er reglos. Als er sich umdrehte, war er kreidebleich.

»Ist das alles?«, fragte er.

»Ja.«

»Aber…«

»Tut mir Leid«, fiel ihm Henry ins Wort. »Wir sind um den ganzen Tafelberg herumgegangen und das ist die einzige Stelle, die für einen Abstieg überhaupt infrage kommt.«

Jimmie widersprach ihm nicht. Er setzte sich auf einen Stein und vergrub das Gesicht in den Händen. So blieb er sitzen, bis Mary sich zu ihm gesellte.

»Was hast du?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. »Siehst du so schwarz?«

Nach einigem Zögern sah er ihr in die Augen.

»Ich habe dich noch nie belogen«, antwortete er todernst. »Und ich will es jetzt auch nicht tun. Ich glaube, dass wir am Ende sind, Liebling.« Er hielt inne. »Endgültig am Ende, aber wir müssen es trotzdem versuchen, mit Gottes Hilfe.« Dann wandte er sich den beiden Männern zu, die ihn erwartungsvoll beobachteten. »Ich möchte, dass ihr uns beide aneinander seilt«, sagte er schließlich. »Entweder schaffen wir es gemeinsam oder wir sterben gemeinsam.«