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»Wir werden uns alle aneinander seilen«, entschied Henry. »Ich gehe voran, dann folgt Mary. Du wirst sie halten und Delgado wird dich halten.«

»Das ist nicht gerecht«, wandte Mary ein. »Eure Überlebenschancen sind viel größer, wenn ihr nicht an uns gefesselt seid.«

»Wir sind in den Bergen«, entgegnete Henry schlicht. »Hier hängt das Schicksal des Einen von dem des Anderen ab. Das ist das Erste, was ein Bergsteiger lernt, wenn er den Pickel in die Hand nimmt. Mach dir keine Sorgen. Wenn du die Nerven behältst, kommen wir alle zusammen heil unten an.«

Eine halbe Stunde später waren alle bereit. Bevor sie mit dem gefährlichen Abstieg begannen, knieten sie nieder und baten den Schöpfer des geheimnisvollen Berges um ein Wunder, damit sie unbeschadet unten ankamen.

Als Mary in den Schacht blickte und unter sich die Gran Sabana sah, trat sie instinktiv einen Schritt zurück. Doch ihr Mann schubste sie sanft vorwärts und flüsterte ihr ins Ohr: »Los Liebling, zeig ihnen, was in dir steckt.«

Zu dritt hielten sie das Seil fest und ließen Henry langsam hinabgleiten, bis er sich mit den Füßen an der Felswand abfedern konnte. Als er sicheren Halt gefunden hatte, rief er nach oben.

»Es kann losgehen!«

Mary bekreuzigte sich, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und folgte ihm.

Die beiden Männer seilten sie Zentimeter um Zentimeter ab, bis sie Henry rufen hörten.

»Ich habe sie. Jetzt lasst die Vorräte herunter!«

An den Stahlseilen befestigt, die sie der Maschine entnommen hatten, folgten Wasser und Proviant, bis sie Henry erneut rufen hörten.

»Alles da! Jetzt die Diamanten!«

»Was hast du gesagt?«

»Die Diamanten!«

»Was meinst du, verdammt noch mal?«, gab Jimmie gereizt zurück.

»Den Sack voll Diamanten«, wiederholte der andere lachend. »Sind wir denn nicht deshalb hergekommen?«

»Lass die blöden Witze!«, gab Jimmie scharf zurück. »Wie kannst du in so einem Augenblick lachen?«

»Was soll ich denn deiner Meinung nach sonst tun? Heulen etwa?«, erwiderte Henry. »Los, mach, dass du runterkommst, sonst wird es noch dunkel.«

Jimmie beeilte sich zu gehorchen. Seine Beine baumelten bereits über dem Abgrund, da schärfte Delgado ihm ein: »Immer mit der Ruhe. Das Einzige, was wir im Überfluss haben, ist Zeit. Lieber eine Stunde zu spät, als eine Minute zu früh.«

»Den Spruch kenne ich, allerdings genau umgekehrt«, antwortete Jimmie.

»Sicher. Aber hier geht es ja auch abwärts.«

Der Pilot schüttelte verwirrt den Kopf. Daraufhin ließ der andere ihn langsam hinab, während Jimmie mit den Füßen in der Luft baumelte und festen Halt suchte.

»Nach links, etwas mehr nach links!«, rief ihm Mary von unten zu. »Links von dir ist ein kleiner Vorsprung.«

Es war eine mühselige Prozession.

Zum Verzweifeln. Wie die beiden Profis vorausgesagt hatten, mussten sie wie Schildkröten vorgehen, die den nächsten Schritt erst wagen, wenn sie drei Beine fest verankert haben. Allein von ihrer Geduld und Präzision hingen Erfolg oder Misserfolg des ganzen Unternehmens ab.

Den überwiegenden Teil der Zeit schwiegen sie und befolgten genau sämtliche Anweisungen, die sie von Henry erhielten. Er kletterte stets voran und nur seiner langjährigen Erfahrung war es zu verdanken, dass sie relativ sicher absteigen konnten.

Gelegentlich schlug er einen der wenigen Kletterhaken, die sie dabeihatten, in die glatte Felswand und befestigte mit einem Karabiner das Seil daran. Später würde Delgado als Letzter die Kletterhaken und Karabiner einsammeln.

Sie schwitzten.

Sie keuchten.

Sie fluchten.

Die meiste Zeit aber beteten sie still vor sich hin, war doch allen bewusst, dass ihr Leben nun unwiderruflich in Gottes Händen lag.

Am Nachmittag erreichten sie eine winzige Mulde im Gestein, eine Art unebene Vertiefung, etwa einen Viertelmeter breit, wo Henry und Jimmie dicht nebeneinander sitzen und sich mit den Füßen an der Felswand abstützen konnten. Jimmie nahm Mary Huckepack und ebenso machten es Delgado und Henry.

Sie hatten mehr Ähnlichkeit mit Seiltänzern während einer Zirkusvorstellung als mit menschlichen Wesen, doch so anstrengend die Haltung auch war, sie bedeutete eine Erholung im Vergleich zu den Strapazen des Abstiegs.

Nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren, etwas gegessen und ihren Durst gestillt hatten, fragte Henry, ohne den Kopf zu bewegen: »Wie viel Meter haben wir geschafft?«

»Etwa neunzig«, antwortete Delgado heiser.

»Dann werden wir hier die Nacht verbringen«, erklärte Henry.

Wieder herrschte lange Zeit Stille. Scheinbar wollte oder konnte niemand mehr denken, geschweige denn sprechen. Sie waren froh, dass ein anderer die Verantwortung übernommen hatte, und niemandem lag etwas daran, Henrys Entscheidung infrage zu stellen.

Wie sollten zwei Männer die ganze Nacht in einem schmalen Felsspalt hocken und dabei zwei erwachsene Menschen auf den Schultern tragen? Darauf gab es keine Antwort, doch da ihnen keine andere Möglichkeit blieb, war es auch zwecklos, sich die Frage überhaupt zu stellen.

Nachdem sie fast eine Stunde gedöst und sich ihre Muskeln ein wenig entspannt hatten, verteilte Delgado eine Hand voll Mandeln, Rosinen, Datteln und Nüsse.

»Kaut so langsam wie möglich«, sagte er.

Danach reichte er die Wasserflasche herum.

»Jeder einen Schluck. Nur einen«, befahl er.

Nach der erbärmlichen Stärkung machten sie sich daran, Kletterhaken in die Felswand zu schlagen, um sich mit Hilfe von Seilen und Stahlseilen so fest an die Bergwand zu schnüren, dass sie sich kaum noch rühren konnten.

Allmählich senkte sich die Nacht herab.

Für Mary und Jimmie Angel war es eine der finstersten in ihrem Leben.

Wahrscheinlich auch für Delgado und Henry, trotz ihrer jahrelangen Erfahrung als Bergsteiger.

Zum Glück waren alle nach der entsetzlichen Anspannung der letzten Stunden derart erschöpft, dass sie keine Zeit hatten, über ihre aussichtslose Lage nachzudenken. Sobald sich die Dämmerung der Landschaft bemächtigte, wurden sie vom Schlaf überwältigt, so schnell, als hätte man sie bewusstlos geschlagen.

Drei Stunden vor Sonnenaufgang begann Mary hemmungslos zu schluchzen.

Sie hatte sich nicht mehr beherrschen können und ihre Blase über Nacken und Schultern ihres Mannes entleert.

Der Pilot versuchte, sie zu trösten, während er ihr liebevoll die Schenkel streichelte.

»Ruhig, ganz ruhig«, flüsterte er.

»Was für eine Schande! Mein Gott«, schluchzte sie. »Was für eine Schande!«

»Schon gut«, beschwichtigte Jimmie sie. »Ich bin schließlich dein Mann. Alles halb so wild!«

Die Stunden vor dem Morgengrauen entpuppten sich als die schlimmsten und längsten. Ihre Körper waren so verkrampft, dass sie befürchteten, die Muskeln würden nie wieder auf die Befehle des Gehirns reagieren.

Nachdem Mary immer deutlicher bewusst geworden war, welche Last sie für den Mann darstellte, den sie liebte, hätte sie am liebsten auf der Stelle Schluss gemacht und sich in den Abgrund gestürzt. Der erfahrene Henry hatte jedoch geahnt, dass genau diese Verzweiflung sie in den Morgenstunden der schwierigen ersten Nacht überwältigen würde, und sie besonders fest angeseilt.

Das Morgengrauen kam ihnen vor wie der Anfang vom Ende.

Zwar waren sie jetzt keine versteinerten Statuen mehr, die in einer Felsnische ausgestellt waren, aber jetzt mussten sie auch wieder mit dem Blick in den tiefen Schlund fertig werden, der sie wie eine Sirene mit der Verheißung lockte, ihren Qualen ein schnelles Ende zu bereiten. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, säuselte er ihnen ins Ohr.

Der Schwindel ist wie ein Hypnotiseur, der statt eines Pendels die Leere benutzt, um den Blick und das Bewusstsein seines Opfers zu benebeln und ihnen gleichzeitig den Tod als endgültige Lösung aller Probleme vorgaukelt.