»Seht nicht nach unten!«, warnte Henry. Seine Stimme schien direkt aus der Tiefe des Berges zu kommen. »Fangt an, die Finger zu spreizen und wieder zu schließen!«
Es war die erste Übung des Tages. Sie sollte den Blutkreislauf wieder in Gang bringen, denn alle hatten das Gefühl, dass ihnen während der letzten Stunden das Blut in den Adern geronnen war und ihr Herz aufgehört hatte zu schlagen.
Die Finger zuerst, dann die Hände, später die Arme. Nach etwa einer halben Stunde, als die Muskeln wieder gehorchten, begannen sie, die Seile zu entknoten und Kletterhaken und Karabiner einzusammeln.
Sie aßen die Reste des Reisgerichts vom Vortag auf und mussten sich erneut mit einem einzigen Schluck Wasser begnügen. Schließlich ließ Henry sich das nächste Stück am Seil in die Tiefe gleiten, während Delgado ihn von oben sicherte.
Die Übrigen folgten.
Es war eine jämmerliche Prozession mit ungewissem Ausgang, denn immer noch wussten sie nicht, was sie am Ende des schmalen Schachts tatsächlich erwartete.
Bald darauf bemerkten sie die ersten Lichtblitze. Offenbar suchte Félix Cardona sie. Doch bis an die Stelle der Steilwand, wo sie sich im Augenblick befanden, drangen noch keine Sonnenstrahlen durch, sodass sie seinen aufmunternden Morgengruß nicht erwidern konnten.
»Armer Félix!«, seufzte Mary. »Es muss ihm ganz schön mies gehen.«
»Ich würde auf der Stelle mit ihm tauschen«, entgegnete Delgado und lachte. »Ich würde alles geben, um wieder auf festem Boden zu sitzen, und wenn es auf einem Kaktus wäre!«
Kurz vor Mittag erreichten sie den Vorsprung am Ende des Schachts. Nachdem sie noch weitere zwanzig Meter fast horizontal weitergegangen waren, standen sie erneut am Rand des Abgrunds.
Vorsichtig setzten sie sich auf den Absatz, der so breit war, dass sie sogar liegen konnten. Nachdem sie sich eine Zeit lang ausgeruht hatten, bat Henry darum, ihn am Gürtel festzuhalten.
Dann schob er sich mit dem Oberkörper so weit über den Rand des Abgrunds vor, bis er erkennen konnte, wie die Felswand darunter aussah.
»Kannst du etwas sehen?«
»Etwa zwanzig Meter tiefer gibt es anscheinend einen Felsvorsprung, der leicht aufwärts und um die Ecke führt.«
»Der leicht aufwärts führt?«, wiederholte Jimmie entsetzt. »Das darf doch nicht wahr sein!«
»Nur ganz leicht; wichtig ist, dass wir ihn problemlos erreichen können. Was danach wird, weiß nur Gott.«
Sie versuchten, es gelassen zu nehmen.
Zuerst sandten sie Félix ein Lebenszeichen, das prompt erwidert wurde, verrichteten dann ihre Notdurft, nahmen einen Schluck aus der Wasserflasche und setzten ihren Abstieg fort, der sie nach und nach bis zum Fuß des Tepui führen sollte.
Wieder ließen die drei zuerst Henry langsam hinunter, damit er in aller Ruhe das halbe Dutzend Kletterhaken, die sie hatten, in die Felswand hämmern konnte.
Als er den kleinen Felsvorsprung endlich erreicht und festen Halt unter den Füßen gefunden hatte, folgte Mary, gesichert von den beiden Männern. Henry fing sie auf und setzte sie vorsichtig neben sich auf den Felsvorsprung.
Danach war wie immer Jimmie dran, der das Seil an den Kletterhaken befestigte, damit der Letzte sich daran abseilen und sie gleichzeitig einsammeln konnte.
Es war nur allzu offensichtlich, dass ohne die Erfahrung der beiden venezolanischen Bergsteiger nichts von alledem möglich gewesen wäre. Dies war auch der Grund, warum Jimmie sich strikt an die Anweisungen der beiden hielt. Er wusste genau, dass das Leben seiner Frau wie auch sein eigenes allein in den Händen dieser Männer lag.
Als sie wieder beisammen waren, stiegen sie den kleinen Pfad bis zur nächsten Biegung hoch und stellten entzückt fest, dass von dort ein schräg abfallender Hang fast fünfzig Meter weit in die Tiefe führte.
Es wäre in der Tat ein schönes Geschenk gewesen, das sie ein ganzes Stück weiter gebracht hätte. Doch ihre Freude hielt nur so lange an, bis sie feststellten, dass eine dünne Schicht aus Moos und Flechte die Oberfläche in eine wahre Rutschbahn verwandelte. Bei der kleinsten Unvorsichtigkeit würden sie direkt in den Abgrund stürzen.
»Nehmen denn die Probleme kein Ende?«, fragte Mary entmutigt.
»Wenn in den Bergen ein Problem wegfällt, dann nur, weil das nächste anfängt«, erklärte Delgado nüchtern. »Es kommt darauf an, dass das nächste Problem nicht schlimmer ist als das davor.«
Es schien völlig unmöglich, auch nur einen Schritt über den trügerisch glänzenden Moosteppich zu wagen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf dem Hintern Zentimeter für Zentimeter die Steigung hinabzurutschen, während sie, so gut es ging, die Absätze in den moosigen Boden bohrten, um sich abzustützen und nicht abzustürzen.
Unter anderen Umständen — ohne die Aussicht auf achthundert Meter Abgrund zur Linken — wäre es einfach nur komisch gewesen. Als sie das tiefer liegende Sims erreichten, waren ihre Kleider zerfetzt, die Haut aufgeschürft und ihre Kräfte verbraucht.
Die Schatten über der Gran Sabana wurden allmählich länger. Direkt vor ihren Augen versank die Sonne gemächlich hinter den Bergen. Sie beschlossen, das Nachtlager zu errichten, schlugen die vom vielen Gebrauch bereits verbogenen Kletterhaken in den Felsen und seilten sich daran fest.
Auf engstem Raum an die Felswand gebunden schliefen sie wie in einer Zwangsjacke. Sie wussten, dass sie sich nicht bewegen durften, wollten sie die anderen nicht unnötig gefährden. Und obwohl sie unter dem sternenfunkelnden Himmel im Freien schliefen, hatte jeder Einzelne von ihnen das Gefühl einer klaustrophobischen Enge.
Trotzdem war ihre Lage um vieles angenehmer als in der Nacht zuvor. Im Morgengrauen fiel ein Schauer, der im Nu in einen tropischen Platzregen überging. Vom Gipfel des Berges prasselte ein wahrer Wasserfall auf sie nieder, der sie zwar vom beißenden Geruch nach Schweiß und Fäkalien befreite und ihren Durst stillte, sie aber auch in die Tiefe zu reißen drohte.
»Verdammt noch mal!«, schrie Jimmie außer sich vor Wut. »Wer hat es bloß auf uns abgesehen?«
»Wahrscheinlich der Teufel in dem Berg«, antwortete Henry scherzhaft und versuchte, die Ruhe zu bewahren, obwohl er mit Sorge beobachtete, wie sich die Kletterhaken im Felsen unter der Wucht des Wassers allmählich lockerten. »Wir haben ihn geärgert und jetzt ärgert er uns.«
»Die Regenzeit in der Gran Sabana ist doch längst vorbei!«, sagte Mary verzweifelt.
»Ich habe fast mein ganzes Leben in der Gran Sabana verbracht und das Einzige, was ich gelernt habe, ist, dass sie macht, was sie will«, mischte sich Delgado ein, der seine Einsilbigkeit verloren zu haben schien. »Entweder akzeptiert man es so oder man bleibt ihr fern.«
Reglos verharrten sie, wo sie waren, und trotzten den Unmengen an Wasser, das von Süden kam, gegen die hohe Felswand peitschte und dann an ihr herabrauschte. Man hätte fast meinen können, dass der Himmel nur darauf aus war, sie bis auf die Knochen zu durchnässen. Als endlich die ersten Sonnenstrahlen am Horizont auftauchten, zitterten sie vor Kälte wie Espenlaub.
Eine wattige Masse hatte sich über die Landschaft gelegt. Reglos saßen sie im Dunst und starrten gedankenverloren in die Leere. So abwesend, dass man den Eindruck haben konnte, sie wären schon tot und warteten nur noch auf das Jüngste Gericht.
Kein Mensch auf der Welt war sich je so einsam und verloren vorgekommen wie diese Unglücksraben auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde.
Niemand hatte sich je so tot gefühlt und doch so am Leben gehangen.
Niemand war so mutig und zugleich verzagt gewesen.
Man kann ziellos durch den Dschungel oder die Wüste irren, im menschenfeindlichen Gebirge die Orientierung verlieren, sich im Dunkeln durch tiefe Höhlen und Tunnel tasten.