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Aber dass diese drei Männer und eine Frau verwirrt an einer schwarzen Felswand herumkraxelten, mal nach oben, dann wieder nach unten, mal vor, dann wieder zurück, mal schweigend, mal fluchend, erschien einfach absurd. Als hätten sie nicht eine herrliche Landschaft mit endlosen Horizonten vor sich, sondern wären von tiefster Finsternis umgeben.

Ihre Bezugspunkte waren immer gleich. Der Fluss und das Lager. Ihr Ziel war klar: die Füße wieder auf festen Boden zu setzen. Und doch lebten sie in ständiger Angst, dass ein falscher Schritt der letzte sein konnte.

Es kam ihnen vor, als wären sie in ein vertikales Labyrinth geraten.

Den vierten Tag verbrachten sie in einer geräumigen drei Meter tiefen Höhle, die ihnen wie ein Märchenschloss vorkam. Dort gönnten sie ihren geschundenen Körpern, die allmählich gegen die Strapazen rebellierten, eine Verschnaufpause, bevor sie sich wieder den Schrecken der Höhe stellten.

Am nächsten Morgen beschlossen die beiden Bergsteiger, allein loszuziehen, um einen Weg zu finden. Mary und Jimmie Angel kauerten eng umschlungen am Ende der Höhle und dachten an die Möglichkeit, dass die beiden den weisen Entschluss gefasst haben könnten, wenigstens ihre eigene Haut zu retten.

»Es sind gute Jungs«, sagte Mary kaum hörbar, als hätte sie die Gedanken ihres Mannes erraten. »Gute und starke junge Männer, die es verdienen, am Leben zu bleiben.«

»Du bist auch gut, stark und jung«, gab ihr Mann zurück. »Du hättest es genauso verdient.«

»Ich bin am Ende. Es würde mir nichts ausmachen, Hand in Hand mit dir in den Abgrund zu springen.« Sie sagte das vollkommen ernst.

»Wir sollten nichts überstürzen«, erwiderte Jimmie. »Diese Möglichkeit läuft uns ja nicht davon. Nun bin ich schon so lange Flieger, aber ich habe immer noch nicht gelernt, es ohne Flügel zu versuchen. Ich Esel! Warum habe ich mich bloß immer geweigert, einen Fallschirm mit an Bord zu führen? Nur weil ich ständig damit angeben musste, dass ich überall landen kann! Jetzt wäre ein Fallschirm Gold wert.«

»Hättest du es fertig gebracht, vom Gipfel des Tepui abzuspringen?«, fragte sie ungläubig.

»Na klar. Du etwa nicht?«

»Ich glaube nicht.«

»Findest du das hier etwa besser?«

»Ich weiß es nicht mehr«, gestand Mary aufrichtig. »Ich fühle mich wie unter Drogen. Als wäre ich gar nicht mehr ich selbst. Als lebte ich in einem Albtraum, aus dem ich nie erwachen werde. Wenn ich mir vorstelle, dass uns nur fünfhundert Meter vom Leben trennen, dass sie aber auch den Tod bedeuten können, habe ich ein solches Gefühl von Ohnmacht, dass ich schreien könnte.«

»Ich weiß, dass du das nicht tun wirst.«

»Da bin ich nicht sicher.«

Schweigend umarmten sie sich, wie kleine Kinder, die sich im dunklen Wald verirrt haben und nun sehnsüchtig auf die Rückkehr ihrer Kameraden hoffen. Gleichzeitig fürchteten sie sich aber auch davor, denn dann wären sie gezwungen, den mörderischen Abstieg fortzusetzen.

Dann kehrten die beiden Bergsteiger tatsächlich zurück, wie sie versprochen hatten.

Wie immer.

Eine gute Nachricht aber brachten sie nicht mit.

Die Verzweiflung wurde übermächtig.

Ihr Labyrinth hatte keinen Ausgang.

Der einzige Ausweg war dieser eine falsche Schritt.

Am neunten Tag waren sie fast verhungert, zerlumpt und völlig erschöpft. Jeder Zentimeter ihrer Haut war übersät mit blutigen Schürfwunden. Sie hatten kaum noch Kraft, um sich an der Bergwand festzuhalten. Ihre entzündeten Augen waren von der Sonne versengt und in den mit Blasen und eitrigen Wunden bedeckten Gesichtern kaum noch zu erkennen. Schließlich gelangten sie zu einem Hang, der achtzig Meter steil herabfiel.

Hier waren sie am Ende aller Wege angelangt.

Ihre zerfetzten Seile hätten nicht mal mehr das Gewicht eines Säuglings ausgehalten. Sämtliche Kletterhaken waren abgebrochen. Sie hatten keine einzige Dattel mehr und kaum noch Trinkwasser. Doch das Schlimmste war, dass sie den Glauben an sich selbst verloren hatten.

Wie so viele vor ihnen sollten auch sie im letzten Augenblick scheitern.

Cardona schrie ihnen von unten Mut zu und versuchte, sie anzuspornen. Doch Henry wusste, dass seine Hände ihm nicht mehr gehorchten. Die Finger, früher stark wie die Krallen eines Raubtiers, waren nur noch rohes Fleisch. Die Hälfte seiner Nägel war abgerissen. Die Augen, normalerweise scharf wie die eines Adlers, waren verschleiert von eitrigen Entzündungen auf seinen Lidern.

Nach sechs Stunden, die sie wie zerbrochene Puppen einfach nur da gesessen hatten, verstummte Cardonas heisere Stimme schließlich. Plötzlich wurde es vollkommen still, als warteten sie auf die Ankunft des Todes oder darauf, dass einer nach dem anderen in ’den Abgrund stürzte. In diesem Augenblick wurde Jimmie klar, dass er das Kommando wieder an sich reißen musste. Die beiden Bergsteiger hatten alles Menschenmögliche getan — viel mehr, als man hätte erwarten können.

Die Verantwortung und die Last des Abstiegs hatten einzig und allein auf ihren Schultern gelegen. Sie hatten übermenschliche Anstrengungen auf sich genommen. Nun aber schien es völlig zwecklos und obendrein ungerecht, ihnen weiterhin die Last der Entscheidungen aufzubürden.

Nicht der erfahrenste Bergsteiger hätte dieses allerletzte Hindernis überwinden können: eine steile, glatt polierte Felswand, die keinerlei Halt bot.

»Félix!«, schrie Jimmie von oben. »Félix? Kannst du mich hören?«

»Ja, ich höre dich!«, antwortete der andere aus weiter Ferne.

»Lauf zur Missionsstation in Kawanayen und hol Pater Orozco!«

»Wozu? Er kann auch nichts tun!«

»Vielleicht hat er eine Idee, wie man uns ein paar Seile hochwerfen könnte.«

»Ihr seid zu hoch!«, schrie der andere zurück.

»Versuch es trotzdem!«

»Ich brauche mindestens zwei Tage, bis ich wieder da bin!«

»Macht nichts, wir halten so lange durch!«

»Na schön!«

Félix Cardona rannte los.

Sie sahen, wie er den steinigen Hang hinunterlief, auf die weite Ebene gelangte und sich endlich auf dem Weg zur Missionsstation in der Ferne verlor.

»Er wird es nicht rechtzeitig schaffen«, murmelte Henry hoffnungslos.

»Das hängt nur von uns ab«, erwiderte Jimmie überzeugt. »Wenn wir es bis hierher geschafft haben, werden wir uns auch jetzt nicht von diesem verfluchten Berg unterkriegen lassen. Nur ein Katzensprung trennt uns vom Leben!«

»Ein Katzensprung?«, entgegnete Delgado. »Das nennst du einen Katzensprung?«

»Nenn es, wie du willst! Wir werden es trotzdem schaffen.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Delgado entmutigt. »Aber wenigstens wird Cardona nicht mitansehen müssen, wie wir langsam krepieren.«

Niemand sagte etwas darauf, denn ganz offensichtlich gab es nichts zu sagen.

Sie tranken das letzte Wasser, das sie hatten, und legten sich hin. Ihre Körper waren dermaßen erschöpft, dass man hätte meinen können, sie wären bloß noch Marionetten, deren Fäden man abgeschnitten hatte.

Marys Haar war über Nacht weiß geworden.

Neun Tage des Grauens waren zu lang für den Todeskampf. Weder die Raubtiere im Dschungel noch sonst ein ihrer Einbildung entsprungenes Ungeheuer hätte ihnen so viel Angst einjagen können wie dieser menschenverschlingende Schlund.

Sich ins Nichts zu stürzen ist für die meisten Menschen ein Albtraum, weil sie wissen, dass man gegen die Schwerkraft nichts ausrichten kann.

Daher ist der Traum, fliegen zu können, im Grunde genommen nichts anderes als der Wunsch, die Angst vor dieser Macht zu bezwingen. So vollkommen und sicher die Flugzeuge auch gebaut sein mögen, im tiefsten Innern weiß jeder Pilot, dass die allmächtige Hand der Schwerkraft früher oder später Mensch und Maschine zurück auf den Boden der Tatsachen holen wird.