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Ausgelaugt, der unerbittlichen Sonne schutzlos ausgeliefert, spürten sie ihre Körper nicht mehr und empfanden weder Hunger noch Durst.

Wer hat schon Hunger, wenn er im nächsten Augenblick von einem Löwen verschlungen wird?

Wer denkt ans Essen, wenn unzählige Gespenster um ihn herumschwirren?

Welches körperliche Verlangen ist stärker als die Angst vor dem Tod?

Und ein Sturz aus achtzig Metern Höhe ist genauso tödlich wie einer aus tausend Metern.

Ein sicherer Tod, höchstens weniger spektakulär.

Während Mary beobachtete, wie die Reiher unter lautem Geschrei zu ihren Nestplätzen zurückkehrten, ehe die Nacht einbrach und sie verstummen ließ, dachte sie darüber nach, warum sie ihrem ersten Impuls nicht gefolgt war und sich von der Höhe des Tafelbergs in die Tiefe gestürzt hatte.

Vielleicht wären dann ihr Mann und die beiden anderen am Leben geblieben.

Vielleicht hätten sie es geschafft, wenn sie ihnen nicht zur Last gefallen wäre.

Vielleicht… Sie warf ihnen einen mitfühlenden Blick zu.

Wie wenig von ihrer einstigen Kraft war ihnen geblieben!

Wie wenig von ihrer beneidenswerten Jugend hatten sie noch!

Sie waren wie lebende Tote. Der Berg hatte ihnen ihre Zuversicht aus dem Leib geprügelt, ihnen die Haut vom Körper gerissen und ihnen den Glanz aus den Augen geraubt.

»O Herr, o Herr!«, flüsterte sie bei sich. »Warum hast du zugelassen, dass wir es bis hierher schaffen, wenn du gar nicht daran dachtest, uns zu retten?«

Der Wind heulte.

Ihr ärgster Feind.

Er konnte sie von ihrem Felsvorsprung fegen wie Blätter von einem Baum.

Mit dem Untergang der Sonne trug der Wind auch die Kälte herbei.

In dieser Nacht hatte Mary große Angst. Nicht vor dem Tod, der längst zu ihrem ständigen Begleiter geworden war. Es war die Angst, im letzten Augenblick den Glauben an einen Gott zu verlieren, der bald über sie zu richten hätte.

Sie wusste, dass sie mehr verlieren würde als nur das Leben, wenn sie ihn im Tod verfluchte; doch die Probe, auf die er sie stellte, war so brutal und ungerecht, dass selbst jemand, der gläubiger gewesen wäre als sie, an seiner Gnade gezweifelt hätte.

Der Wind nahm zu.

Ein für alle Mal schien er sie vom Berg vertreiben zu wollen.

Jimmie verhakte seinen Arm trotz der Gefahr, ihn zu brechen, zwischen zwei Felsen. Mit dem anderen zog er Mary an sich, fest entschlossen, die ganze Nacht dem sich zusammenbrauenden Sturm zu trotzen.

Fest entschlossen, sich und die Frau, die er liebte, zu retten. Wenn der Wind sie ihm entreißen wollte, dann musste er ihm schon die Arme brechen.

Träume kamen ihm diesmal nicht zu Hilfe.

Nur Halbschlaf.

Augenblicke, in denen er kurz einnickte, immer wieder abgelöst von langen Stunden des Wachens.

Schöne Erinnerungen blitzten auf, wurden jedoch von der finsteren Realität des Abgrunds sofort verdrängt, der jetzt zwar unsichtbar, aber trotzdem so nah war, dass nicht einmal die schwarze Nacht ihn aus Jimmies Bewusstsein zu vertreiben vermochte.

Es wurde eine höllische Nacht.

Grausam wie alle anderen Nächte zuvor, nur war er sich jetzt nicht mehr des Ausmaßes der Grausamkeit bewusst.

Im Morgengrauen lag Mary im Delirium.

Der Tod kam mit Siebenmeilenstiefeln auf sie zu.

Jimmie drehte sich um und warf Henry und Delgado einen Blick zu in der Hoffnung, sie hätten sich über Nacht so weit erholt, dass sie einen weiteren Versuch wagen könnten. Doch er sah sofort, dass sie nicht mal mehr Kraft hatten aufzustehen.

Er lehnte den Kopf gegen die Felswand, fuhr seiner bewusstlosen Frau sanft über das Haar und schloss die Augen. Plötzlich, ohne dass er wusste warum, kamen ihm einige Sätze in den Sinn, die sein Freund Dick Curry in seinem schlichten Tagebuch hinterlassen hatte.

Wer wird mein Grab schaufeln? Wer meinen Namen auf das Kreuz schreiben?

Ich liebe dieses Land, obwohl ich weiß, dass es mich umbringen wird; so wie ich Ketty liebte, obwohl ich wusste, dass sie mich am Ende verlassen würde.

Er hat nie erfahren, wie lange er mit geschlossenen Augen reglos dagelegen hatte. Als er sie wieder aufschlug und den Blick über die trostlose Savanne schweifen ließ, fing sein Herz plötzlich an zu pochen.

Weniger als einen Kilometer entfernt marschierte eine Gruppe von nackten Indianern auf sie zu.

»Seht!«, rief er. »Seht nur!«

Henry und Delgado schienen nur unter größter Mühe aus einem Albtraum zu erwachen. Sie schüttelten den Kopf, rieben sich die Augen und starrten in die Richtung, in die Jimmie zeigte.

»Wer mag das sein?«, fragte Jimmie.

»Menschenfresser«, antwortete Delgado.

»Bist du sicher?«

»Nein. Wie könnte ich? Sie sind viel zu weit weg.« Er drehte sich zu Henry um. »Was meinst du?«

»Ich kann nichts erkennen. Außerdem, was spielt es schon für eine Rolle? Sie können uns weder auffressen noch helfen.«

»Wenn es guaharibos wären, könnten sie uns helfen«, sagte der andere leise.

»Großer Gott!«, rief plötzlich sein Kollege. »Du hast Recht! Die guaharibos könnten uns tatsächlich helfen. Aber was macht eine Gruppe von guaharibos so weit weg von ihrem angestammten Gebiet?«

»Wer weiß? Vielleicht wollen sie Tauschhandel treiben? Sie kommen aus dem Norden und marschieren in Richtung Süden.«

»Gib einen Schuss ab!«

Delgado zog seinen schweren Revolver, vom dem er sich nicht mal beim Schlafen trennte, und schoss in die Luft.

Das Echo prallte gegen die Felswand des Tafelbergs und breitete sich über die Gran Sabana aus. Die Indianer blieben erschrocken stehen und griffen nach ihren Waffen. Misstrauisch spähten sie in alle Himmelsrichtungen, um festzustellen, woher der gewaltige Donner gekommen war.

Der zweite Schuss brachte sie auf die richtige Spur, denn schließlich deutete einer von ihnen auf den Tepui.

Die Gruppe beratschlagte eine Zeit lang, dann kam sie schnellen Schrittes auf den Tafelberg zu.

Mary öffnete mühsam die Augen.

»Was ist?«, murmelte sie kaum hörbar.

»Indianer!«, lautete die Antwort.

»Und was…«

Ihr Mann zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht.«

Niemand sagte ein Wort, vielleicht weil bereits der bloße Versuch übermenschliche Anstrengung gekostet hätte, bis schließlich die etwa zwanzigköpfige Gruppe von bewaffneten Wilden dreihundert Meter von ihnen entfernt stehen blieb, einen Halbkreis bildete und sie anstarrte. Sie hatten Bögen und spitze Speere bei sich.

»Und? Sind es guaharibos?« Henrys Stimme klang brüchig, aber hoffnungsvoll.

»Keine Ahnung«, antwortete Delgado aufrichtig. »Jedenfalls scheinen es keine pemones zu sein. Da sie aber keine Kriegsbemalung tragen, könnten es genauso gut waicas wie guaharibos oder piaroas sein.«

»Und worin liegt der Unterschied?«, fragte der König der Lüfte.

»Die waicas würden versuchen, uns mit ihren Pfeilen herunterzuholen. Die guaharibos dagegen würden uns unter Umständen zu Hilfe kommen.«

»Wie denn?«

»Sie wissen schon, wie. Allerdings glaube ich kaum, dass es tatsächlich ›Langbeine‹ sein könnten. Normalerweise verlassen sie ihre Gebiete nicht.«

»Haben sie Töpfe dabei?«, fragte Henry plötzlich.

»Töpfe?«, wiederholte Jimmie. »Was für Töpfe?«