Zwei Indianer hängten sich daran, um seine Festigkeit zu prüfen, und brachten den zweiten Pfahl etwa einen Meter über dem ersten an.
Der wurde nicht genau über dem ersten in den Felsen geschlagen, sondern etwa einen Meter weiter nach rechts versetzt.
Anschließend kletterte ein junger Krieger auf den ersten Pfahl, stützte sich am zweiten ab und hämmerte im gleichen Abstand wie die vorherigen den dritten in den Stein.
»Was zum Teufel machen die da?«, fragte der König der Lüfte, der von seinem Platz aus nicht sehen konnte, was unten vor sich ging.
»Sie bauen eine Treppe«, klärte ihn Delgado auf. »Sie suchen im Felsen nach Spalten, in die sie ihre Pfähle hämmern können. So arbeiten sie sich langsam hoch. Sie sind verdammt geschickt!«
Tatsächlich waren sie verdammt geschickt, vor allem aber gelenkig und waghalsig, auch wenn sie Außenstehenden zuweilen den Eindruck vermittelten, ihre Bewegungen seien tausendfach geübt.
Als der Krieger an der Spitze vier Pfähle in den Felsen geschlagen hatte, stieg er hinunter und übergab die Keule einem anderen, der im Handumdrehen hinaufkletterte, als steige er eine bequeme Treppe hoch, und die Arbeit fortsetzte.
Er stemmte sich mit beiden Füßen auf den vorletzten Pfahl und stützte sich mit der Brust am obersten ab, sodass er keinerlei Risiko einging, als er anschließend mit der linken Hand den neuen Pfahl ansetzte und ihn dann mit der Keule, die er am rechten Handgelenk befestigt hatte, in den Felsen trieb.
Wenn eine Spalte aus irgendeinem Grund nicht genügend Halt für den Pfahl bot, wurde ein »Spezialist« hinzugezogen. Mit Hilfe eines stählernen Meißels und eines schweren Hammers schlug dieser zuerst ein Loch in das harte Gestein. Er arbeitete mit einer solchen Präzision, dass anschließend keiner mehr den einmal eingeführten Pfahl hätte wieder herausziehen können.
Halb Menschen, halb Affen, halb Bergziegen, halb Eichhörnchen, turnten die guaharibos an der Felswand herum, als hätte eine höhere Instanz das Gesetz der Schwerkraft aufgehoben und als wäre Höhenangst bloß eine dumme Erfindung der Weißen.
Tausende von Jahren hatten die guaharibos tief in den Bergen des unzugänglichen Escudo Guayanés überlebt. Ihre einzige Verteidigung gegen die zahlenmäßige Überlegenheit ihrer grausamen Feinde war die Fähigkeit gewesen, in die höchsten Berge zu flüchten, wo niemand wagen würde, sie zu verfolgen. Offensichtlich hatten sie einen angeborenen Instinkt entwickelt, wenn es darum ging, sich in großen Höhen zu bewegen. Eine achtzig Meter hohe Steilwand wäre für jeden anderen ein unüberwindbares Hindernis gewesen, für sie aber schien es eher ein Zeitvertreib zu sein.
Trotz der anstrengenden Arbeit sangen und lachten sie. Die Scherze galten offensichtlich den vier Weißen, die wie verschreckte Hühner auf ihrem Felsvorsprung hockten. Sie waren so unbeschwert, dass sie alles stehen und liegen ließen, als zwei ihrer Mitglieder mit einem fetten Tapir, den sie an einen Stock gebunden über die Schulter trugen, aus dem dichten Wald kamen.
»Nicht zu fassen!«, sagte Jimmie verdutzt. »Die haben tatsächlich vor, erst einmal ein Festmahl abzuhalten, während wir hier oben schmoren.«
»Wenn es nur das wäre«, erklärte Delgado. »Nach dem Festmahl werden sie erst mal ein Mittagsschläfchen halten.«
»Du machst wohl Witze?«
»Lass dich überraschen.«
»Können wir denn nichts dagegen unternehmen?«
»Was denn? Sie erweisen uns einen großen Dienst. Wir können nur beten, dass sie nicht müde werden. Guaharibos sind sehr primitive Menschen und mehr als eigensinnig. Sie arbeiten nur, wenn es ihnen Spaß macht, aber wenn sie plötzlich keine Lust mehr haben oder sich dabei langweilen, lassen sie alles liegen und ziehen weiter. Daher auch ihr Spitzname, Langbeine. Sie halten es nirgendwo sehr lange aus.«
»Komisch«, sagte Mary und zeigte nach unten. »Sie haben die Sachen, die wir hinuntergeworfen haben, nicht mal angefasst und machen einen großen Bogen darum, als würden sie jeden Kontakt meiden.«
»Das tun sie auch«, erklärte Henry. »Sie rühren nie etwas an, das von uns Weißen stammt, außer Gegenstände aus Metall. Sie haben eine Todesangst vor Krankheiten.«
»Krankheiten?«, wiederholte sie überrascht.
»Ja, Grippe, Masern, Tuberkulose… All diese Krankheiten sind für sie tödlich, weil sie keine Abwehrkörper dagegen besitzen. Sie haben mit der Zeit gelernt, dass wir Weißen sie auf direktem Weg oder über unsere Kleidung übertragen, deshalb lassen sie es nicht zu, dass wir ihnen nah kommen. Wenn sie Tauschhandel betreiben, dann nur aus sicherem Abstand. Ohnehin nehmen sie nur Töpfe, Nägel, Hämmer oder Macheten an.«
»Merkwürdig.«
»Sie sind zwar primitiv, aber nicht dumm. Nur so haben sie es geschafft zu überleben, auch wenn ihre Zahl sehr gering ist.«
Ein Knurren unterbrach ihn.
Es klang laut und trocken und kam aus seinen tiefsten Eingeweiden, als ihnen der Duft des saftigen Bratens in die Nase stieg. Drei Tage waren vergangen, seit sie zum letzten Mal etwas gegessen hatten.
Seit das Auftauchen der Indianer in ihnen wieder die Hoffnung auf Rettung geweckt hatte, waren auch der Hunger und die Lebenslust zurückgekehrt. Jetzt verlangten ihre ausgelaugten Körper wieder die Aufmerksamkeit, die ihnen die ganze Zeit verwehrt worden war.
Doch sie mussten sich mit dem Duft begnügen und sogen ihn tief ein. Resigniert sahen sie zu, wie die Wilden ihre Mahlzeit beendeten und sich anschließend zu einem Mittagsschläfchen hinlegten. Laut schnarchend warteten sie, dass die heißesten Stunden des Tages vergingen.
Ihnen dagegen verbrannte die sengende Sonne die milchweiße Haut. In ihrer Nacktheit fühlten sie sich erbärmlicher und verletzlicher als je zuvor.
Ihrer aller Leben hing an einem seidenen Faden und dieser Faden lag obendrein in der Hand von ein paar Wilden, die im Augenblick den Schlaf der Gerechten schliefen und beim Aufwachen womöglich zu dem Schluss gelangten, dass es zu heiß war, um weiterzumachen, und sie dem grausamsten aller Tode überließen.
»Warum?«, flüsterte Mary ihrem Mann ins Ohr. »Was haben wir verbrochen, dass wir nun so einen hohen Preis dafür zahlen müssen?«
»Wahrscheinlich ist es Aucaymas Rache, wie Henry meint«, antwortete Jimmie ratlos.
»Wer ist das?«
»Der Geist des Heiligen Berges, in dem sich Gold und Diamanten vereinen. Er weiß, dass ich den Berg geschändet habe, und er wird es mir niemals verzeihen. Ich habe keine Angst vor seiner Strafe, aber da er jetzt auch weiß, dass ich dich liebe, rächt er sich an dir.«
Sie küsste ihn sanft auf das Ohrläppchen.
»Danke!«, flüsterte sie. »Danke für all diese Jahre und das Glück, das du mir geschenkt hast. Egal, was jetzt kommt, es war die Sache wert.«
Sie warteten.
Langsam neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen. Die Indianer erwachten und versammelten sich nach und nach am Fuß des Abhangs. Eine Zeit lang begutachteten sie die Arbeit, die sie vollbracht hatten. Sie schienen abzuwägen, wie viele Stunden sie noch vor sich hatten und wie groß die Anstrengung wäre, bis sie zu den Weißen vorstießen.
Ihre Begeisterung hielt sich offensichtlich in Grenzen, als hätte die schwere Verdauung ihnen die Lust geraubt. Es dauerte nicht lange, da zeichnete sich ab, dass die Mehrheit dazu tendierte, die Arbeit liegen zu lassen und weiterzumarschieren.
Plötzlich ertönte von oben eine tiefe ernste Stimme, die ein altes spanisches Lied anstimmte.