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HELEN KELLER Mein Weg aus dem Dunkel

2 Ali

SÜDAFRIKA, NÖRDLICH VON ASKAM, IN DER WÜSTE KALAHARI 1995

»Mutter?« Die Stimme des Mädchens drang in Alis Hütte.

Genau so mussten wohl die Geister singen, dachte Ali, in diesem Bantu-Singsang, dieser Melodie auf der Suche nach einer Melodie. Sie schaute von ihrem Koffer auf. Auf der Schwelle stand ein Zulu-Mädchen, mit jenem erstarrten und aufgerissenen Grinsen im Gesicht, das Lepra im fortgeschrittenen Stadium anzeigte. Lippen, Augenlider und Nase waren bereits weggefressen.

»Kokie«, sagte Ali. Kokie Madiba. Vierzehn Jahre alt. Die anderen nannten sie Hexe.

Hinter dem Rücken des Mädchens erblickte Ali sich und Kokie in einem Wandspiegel. Der Kontrast gefiel ihr nicht. Ali hatte im letzten Jahr ihr Haar wachsen lassen. Direkt neben der zerstörten Haut des schwarzen Mädchens nahm sich ihr goldenes Haar wie erntereifer Weizen neben einem versteppten Acker aus. Ihre Schönheit kam ihr obszön vor. Ali rückte ein Stück zur Seite, um ihr Spiegelbild verschwinden zu lassen. Eine Zeit lang hatte sie sogar versucht, ihren kleinen Spiegel von der Wand zu nehmen, ihn jedoch in der verzweifelten Erkenntnis, dass Verleugnung noch eitler als Eitelkeit sein konnte, schließlich wieder aufgehängt.

»Wir haben doch schon so oft darüber gesprochen«, sagte sie. »Ich bin Schwester, nicht Mutter.«

»Ja, richtig, wir haben darüber gesprochen«, erwiderte die Waise, »Schwester, Mutter.«

Manche von ihnen hielten sie für eine Heilige, für eine Königin. Oder eine Hexe. Eine unverheiratete Frau, schon gar eine Nonne, war hier draußen im Busch nur schwer vorstellbar. Wenigstens einmal hatte ihr ihre Extravaganz geholfen. Die Menschen in der Kolonie waren zu dem Schluss gekommen, dass die Nonne ebenso wie sie von der Gesellschaft gemieden wurde und hatten sie bei sich aufgenommen.

»Was wolltest du denn, Kokie?«

»Ich bringe dir das hier.« Das Mädchen hielt ihr eine Halskette mit einem kleinen, verschrumpelten, perlenbestickten Beutel entgegen. Das Leder sah noch frisch aus, wie eilig gegerbt. Hier und da standen noch kleine Haare davon ab. Sie hatten sich beeilt, um mit dem Geschenk rechtzeitig fertig zu werden. »Du musst das tragen. Hält das Böse fern von dir.«

Ali nahm die Kette von Kokies staubiger Handfläche und bewunderte die geometrischen, aus roten, weißen und grünen Perlen gebildeten Muster. »Hier«, sagte sie und gab sie Kokie zurück. »Lege sie mir um.«

Ali beugte sich vornüber und hielt ihr Haar in die Höhe, damit das leprakranke Mädchen ihr die Halskette anlegen konnte. Sie teilte Kokies feierlichen Ernst. Dieses Geschenk war kein Touristenplunder. Es war ein Teil von Kokies Überzeugung. Wenn jemand das Böse in der Welt kennen gelernt hatte, dann dieses Kind.

In dem allgemeinen Chaos nach der Aufhebung der Apartheid und der raschen Verbreitung von AIDS durch die aus Simbabwe und Mosambik nach Süden drängenden Arbeit Suchenden in den Gold- und Diamantenminen, hatte sich unter der armen schwarzen Bevölkerung Hysterie breit gemacht. Alter Aberglaube war wieder erwacht. Es war ein offenes Geheimnis, dass Sexualorgane, Finger und Ohren, sogar Hände voll menschlichen Fettgewebes, aus Leichenhallen gestohlen und als Fetische benutzt wurden. Immer wieder wurden Leichen nicht begraben, weil die Familienmitglieder davon überzeugt waren, die Toten würden wieder lebendig werden.

Mit Abstand am schlimmsten war die Hexenjagd. Die Leute behaupteten, das Böse komme tief aus der Erde zu ihnen herauf. So weit Ali wusste, wurde dergleichen seit Anbeginn der Menschheit behauptet. Jede Generation hatte ihre eigenen Alpträume. Sie war überzeugt davon, dass diese Schreckgespenster von den Arbeitern in den Diamantenminen ins Leben gerufen worden waren, um den Hass der Öffentlichkeit von sich selbst abzulenken. Sie behaupteten, sie wühlten so tief in der Erde, dass sie bis zu den Behausungen fremder Wesen gedrungen seien. Die Bevölkerung hatte diesen Unsinn in eine Hexenkampagne verwandelt. Im ganzen Land waren bereits Hunderte unschuldiger Frauen mit einem brennenden Reifen um den Hals gestorben, mit Macheten niedergemacht oder vom abergläubischen Pöbel gesteinigt worden.

»Hast du deine Vitaminpillen genommen?«, fragte Ali.

»Ja.«

»Wirst du sie auch dann nehmen, wenn ich weg bin?«

Kokies Blick huschte über den Lehmboden. Alis Weggang war besonders schmerzhaft für sie. Wieder einmal wunderte sich Ali darüber, wie rasch alles gekommen war. Erst vor zwei Tagen hatte sie den Brief mit den neuen Anweisungen erhalten.

»Die Vitamine sind wichtig für dein Baby, Kokie.«

Das leprakranke Mädchen berührte seinen Bauch. »Ja, das Baby«, flüsterte es freudig. »Jeden Tag. Wenn die Sonne aufgeht. Die Vitaminpille.«

Ali liebte Kokie, weil Gottes Mysterium in all seiner Grausamkeit ihr gegenüber so offenkundig war. Zweimal hatte Ali sie gerettet. Vor acht Monaten hatten ihre Selbstmordversuche aufgehört. Damals hatte Kokie erfahren, dass sie schwanger war.

Ali wunderte sich immer noch darüber, wenn nachts die Geräusche der Liebenden an ihr Ohr drangen. Die Lektion war einfach und tiefgründig. Diese Leprakranken waren füreinander nicht hässlich. Selbst in ihrer erbärmlichen Gestalt waren sie gesegnet und schön.

Mit dem neuen Leben, das in ihr heranwuchs, hatten Kokies Knochen mehr Fleisch angesetzt. Sie hatte wieder angefangen zu sprechen. Jeden Morgen lauschte Ali ihren gemurmelten Melodien, diesem eigenartigen Mischdialekt aus Siswati und Zulu, der schöner als der Gesang der Vögel klang.

Auch Ali fühlte sich wie neu geboren. Sie fragte sich, ob es sie vielleicht deshalb nach Afrika verschlagen hatte. Es war, als spräche Gott durch Kokie und all die anderen Leprakranken und Flüchtlinge zu ihr. Seit Monaten wartete sie jetzt schon auf die Geburt von Kokies Kind. Bei einem ihrer seltenen Ausflüge nach Johannesburg hatte sie von ihrem eigenen schmalen Gehalt Vitamine und mehrere Bücher über Geburtshilfe für Kokie gekauft. Ein Krankenhaus kam für Kokie nicht in Frage, und Ali wollte vorbereitet sein. In letzter Zeit hatte sie wiederholt davon geträumt. Die Geburt ereignete sich in einer von Dornen umgebenen Hütte mit Blechdach, vielleicht in dieser Hütte, in diesem Bett. In ihre Hände wurde ein gesundes Kind gelegt, das alle Sorgen und Ängste dieser Welt für nichtig erklärte. Ein einfacher Akt, in dem die Unschuld triumphierte.

An diesem Morgen jedoch wurde Ali die unweigerliche Tatsache schmerzhaft klar: Ich werde dieses Kind niemals sehen. Denn Ali war versetzt worden. Abermals in den rauen Wind der Welt geworfen. Immer wieder. Es spielte keine Rolle, dass sie ihre Aufgabe hier noch nicht beendet hatte. Dass sie eigentlich kurz vor der Wahrheit stand. Drecksäcke! Der Ausdruck bezog sich eindeutig auf Männer. Bischöfe.

Ali faltete eine weiße Bluse zusammen und legte sie in den Koffer. Entschuldige bitte die harten Worte, oh Herr. Aber sie bekam immer mehr das Gefühl, ein Brief ohne Adressat zu sein.

Seit dem Tag, an dem sie ihr Ordensgelübde abgelegt hatte, war dieser kobaltblaue Samsonite-Koffer ihr treuer Begleiter gewesen. Zuerst nach Baltimore, Ghetto-Arbeit, dann nach Taos, um ein wenig frischen Klosterwind zu tanken, dann zur Columbia University, wo sie ihre Dissertation durchpeitschte. Anschließend noch mehr Straßenarbeit in Winnipeg. Dann, nach dem Doktorexamen ein Jahr Forschungsarbeit in den Archiven des Vatikans, dem »Gedächtnis der Kirche«. Anschließend der unverhoffte Ruf: neun Monate als addetti di nunziatura, als Attaché des Vatikans, eine Funktion, in der sie die päpstliche diplomatische Delegation bei den NATO-Gesprächen zur Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen unterstützte. Hartes Brot für ein siebenundzwanzigjähriges Landei aus West-Texas. Man hatte sie nicht nur auf Grund ihrer langjährigen Verbindung zur US-Senatorin Rebecca January, sondern auch wegen ihrer linguistischen Ausbildung für den Job ausgewählt. Natürlich hatten sie sie auf dem großen Spielfeld der Politik nur als kleinen Bauern eingesetzt. Gewöhn dich daran, hatte ihr January eines Abends geraten. Jedenfalls kommst du auf diese Weise viel rum. Aber sicher, dachte Ali und sah sich in ihrer Hütte um.