»Jemand ist schon seit geraumer Zeit dabei, unsere Quellen zu vernichten«, sagte Parsifal. »Bis vor kurzem handelte es sich lediglich um kleinere Bereinigungen: hier ein verändertes Manuskript, dort ein verschwundenes Fotonegativ. Inzwischen geht die Vernichtung umfassender und spektakulärer vor sich. Als versuchte jemand, reinen Tisch zu machen, bevor er aus der Stadt verschwindet.«
»Das sind doch Zufälle«, meinte de l’Orme. »Bücherverbrenner. Anti-Intellektuelle. Heutzutage gibt es eben zu viele Verrückte.«
»Das ist kein Zufall! Er hat uns benutzt. Wie Bluthunde hat er uns auf seine eigene Fährte gehetzt. Und jetzt geht er den ganzen Weg zurück.«
»Er?«
»Er löscht sein eigenes Bild aus.«
»Dann vernichtet er sich selbst.« Doch noch während er die Worte aussprach, spürte de l’Orme, dass ferne Alarmsirenen in seinem Kopf klingelten.
»Er vernichtet unsere Erinnerung«, sagte Parsifal. »Wir sind das letzte Zeugnis. Nach uns heißt es wieder Tabula rasa.«
De l’Orme versuchte, die Informationen auf die Reihe zu kriegen. »Sie wollen also damit sagen, dass wir den Feind auf seine eigene Spur geführt haben. Dass es eine gezielt durchgeführte Aktion gewesen sei. Dass Satan einer von uns ist. Dass er - oder sie? - inzwischen alle unsere Beweise vernichtet. Ich frage noch einmaclass="underline" weshalb? Was gewinnt er dadurch, dass er sämtliche bisherigen Bilder von sich vernichtet? Wenn Ihre Theorie einer durch Wiedergeburt fortgesetzten Reihe von Hadal-Königen der Wahrheit entspricht, wird er beim nächsten Mal ohnehin mit einem unbekannten Gesicht auftauchen.«
»Aber mit den immer gleichen unterbewussten Verhaltensmustern«, erwiderte Parsifal. »Erinnern Sie sich? Wir haben darüber geredet. Man kann nicht grundsätzlich gegen den eigenen Charakter angehen. Er ist wie ein Fingerabdruck. Er kann versuchen, sein Benehmen zu ändern, doch die Beweise aus fünftausend Jahren menschlicher Kultur haben ihn identifizierbar gemacht. Wenn nicht für uns, dann doch der nächsten BeowulfGruppe oder der übernächsten. Gibt es jedoch keine Beweismittel mehr, kann er auch nicht mehr aufgespürt werden. Er wird zu einem Unsichtbaren. Wer oder was zum Teufel er auch immer sein mag.«
»Lassen Sie ihn toben«, sagte de l’Orme und meinte dabei Parsifals Zorn ebenso wie das hadalische Objekt ihrer Treibjagd.
»Wenn er sein Zerstörungswerk beendet hat, kennen wir ihn noch besser als er sich selbst kennt. Wir sind dicht dran.«
Er lauschte Parsifals schwerem Atem am anderen Ende der Leitung und hörte, wie Wind gegen eine Telefonzelle peitschte. De l’Orme stellte sich eine gottverlassene Tankstelle irgendwo an einer Autobahn vor.
»Gehen Sie nach Hause«, sagte er.
»Auf wessen Seite stehen Sie? Deswegen habe ich eigentlich angerufen. Auf wessen Seite stehen Sie?«
»Auf wessen Seite ich stehe?«
»Genau darum geht’s doch bei dieser ganzen Sache, oder nicht?«
Parsifals Stimme verlor sich. Wind brüllte fauchend auf. Parsifal hörte sich an wie ein Mensch, der sowohl seinen Verstand als auch seinen Körper an den Sturm verliert.
»Ihre Frau fragt sich doch bestimmt schon, wo Sie sich herumtreiben. Gehen Sie nach Hause.«
»Damit sie endet wie Mustafah? Wir haben uns getrennt. Sie wird mich nie wieder sehen.«
»Was ist mit Mustafah?«
»Man hat ihn letzten Freitag in Istanbul gefunden. Das, was von ihm übrig geblieben ist, trieb in der Zisterne der Basilika von Yerebatan Sarayi. Wir sind Teil des Beweismaterials, begreifen Sie das nicht?«
Mit konzentrierter Präzision legte de l’Orme seine Brille auf den Tisch. Ihm war schwindlig. Er wollte Parsifal dazu bringen, seine grausame Nachricht zu widerrufen.
»Es gibt nur einen, der dafür verantwortlich sein kann«, sagte Parsifal. »Sie wissen es ebenso gut wie ich.«
Ein paar Sekunden herrschte Stille. Keiner der Männer sagte etwas. Aus dem Telefonhörer drangen die wütenden Böen des Schneesturms.
Dann ergriff Parsifal wieder das Wort: »Ich weiß, wie nah Sie beide sich standen.«
»Ja«, sagte de l’Orme.
Es war die schlimmste Täuschung, die er sich vorstellen konnte. Er hatte sie von Anfang an nur benutzt. Sie waren für ihn nicht mehr als Lasttiere gewesen, die man zu Tode reiten konnte.
»Sie müssen weg von ihm«, sagte Parsifal.
Doch de l’Ormes Gedanken drehten sich jetzt nur um den Verräter. Er versuchte, sich die abertausend Täuschungen vorzustellen, mit denen er sie hinters Licht geführt hatte - mit der Unverfrorenheit eines Königs!
Beinahe bewundernd flüsterte er seinen Namen.
»Lauter«, sagte Parsifal. »Ich kann Sie bei dem Wind kaum verstehen!«
»Thomas«, sagte de l’Orme noch einmal. Was für ein grandioser Mut! Welch skrupellose Hinterlist! Aber hinter was war er her gewesen? Wer war er in Wirklichkeit? Und weshalb hatte er eine derartige Treibjagd auf sich selbst inszeniert?
»Dann haben Sie also davon gehört«, rief Parsifal. Der Schneesturm wurde schlimmer.
»Ist er gefunden worden?«
»Ja.«
De l’Orme war verdutzt. »Aber ... das heißt doch, dass wir gewonnen haben.«
»Sind Sie jetzt total verrückt geworden?«, rief Parsifal. »Thomas ist tot!«
De l’Orme versuchte, die Worte zu verdauen, aber jetzt begriff er überhaupt nichts mehr. »Tot?«
»Ja«, schrie der Astronaut. »Endlich haben Sie verstanden! Erst Mustafah. Jetzt Thomas. Satan hat sie getötet!«
De l’Orme runzelte die Stirn. »Sie sagten doch, sie hätten ihn gefunden. Satan.«
»Nein! Thomas!«, korrigierte Parsifal. »Sie haben Thomas gefunden. Heute Nachmittag. Er ist von einem der Felsen des Berges Sinai gestürzt - oder heruntergestoßen worden. Satan hat es getan. Er bringt uns alle um, einen nach dem anderen.«
Jetzt endlich verstand de l’Orme, was Parsifal ihm da erzählte. Nicht Thomas war der große Betrüger. Es war jemand, der ihm noch näher stand.
»Sind Sie noch dran?«, brüllte Parsifal.
De l’Orme räusperte sich. »Was ist mit Thomas’ Leiche geschehen?«
»Das, was die Wüstenmönche sonst auch mit ihren Toten tun. Sie wollen ihn so rasch wie möglich unter die Erde bringen. Er wird am Mittwoch begraben, bei ihnen im Kloster.« Er machte eine kleine Pause und sagte dann: »Sie wollen doch nicht etwa hin, oder?«
So viel zu planen. Eigentlich so wenig. De l’Orme wusste genau, was als Nächstes zu tun war.
»Es ist Ihr Leben«, sagte Parsifal. De l’Orme legte den Hörer auf.
SAVANNAH, GEORGIA
Sie erwachte aus alten Träumen. Das Zimmer war von Mondlicht durchflutet. Die Leinenvorhänge bewegten sich im Luftzug. Grillen zirpten auf dem Rasen vor der Veranda. Das Fenster war offen.
»Vera«, sagte ein Mann aus einer dunklen Ecke.
Sie zuckte zusammen, und die Brille fiel ihr aus den Fingern. Ein Einbrecher, dachte sie. Aber ein Einbrecher, der ihren Namen kannte? Wer mochte ihn wohl auf so traurige Weise aussprechen?
»Wer ist da?«, fragte sie unsicher.
»Ich habe dir beim Schlafen zugesehen«, sagte er. »In diesem Licht sehe ich ein kleines Mädchen, das von seinem Vater sehr geliebt wurde.«
Er würde sie umbringen. Vera hörte die Entschlossenheit hinter seinen zärtlichen Worten.
Eine Gestalt erhob sich im Mondschatten. Von seinem Gewicht befreit, knackte und knisterte das Geflecht des Korbstuhls, und der Mann kam auf sie zu.
»Wer sind Sie?«, fragte sie noch einmal.
»Hat dich Parsifal nicht angerufen?«
»Doch.«
»Hat er es dir nicht gesagt?«
»Was denn?«
»Wer ich bin.«
Ein frostiger Schauer senkte sich auf sie. Parsifal hatte sie tatsächlich angerufen, doch sie hatte seine Litanei rasch abgewürgt. Der Himmel stürzt herab, mehr hatte sie seinem betrunkenen Nonsens nicht entnehmen können. Sie hatte einfach aufgelegt. Er hatte mehrere Male zurückgerufen, hatte vehement auf sie eingeredet und sich dabei wie ein Weltuntergangsprophet angehört. Ich bleibe, wo ich bin, hatte sie ihm gesagt.