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Also hatte er doch Recht gehabt.

Ihr Rollstuhl stand direkt neben dem Nachttisch. Sie versuchte nicht, ihrem Besucher seine mörderischen Gedanken auszureden. Sie wollte auch seinen Sadismus nicht auf die Probe stellen. Vielleicht würde er rasch und geschäftsmäßig vorgehen. Also würde sie letztendlich doch im Bett sterben, schoss es ihr durch den Kopf.

»Hat er dir Lieder vorgesungen?«, fragte der Mann.

Vera versuchte, ihren Mut und ihre Gedanken zu sortieren. Ihr Herz raste. Sie wollte ruhig sein.

»Parsifal?«

»Nein. Ich meine deinen Vater.«

Seine Frage irritierte sie. »Lieder?«

»Vor dem Einschlafen.«

Es war eine Einladung. Sie nahm sie an. Vera schloss die Augen und erinnerte sich. Sie versuchte, die Grillen zu ignorieren, ihr dröhnendes Herz zu übertönen und in die Vergangenheit hinabzusteigen, die sie schon immer verloren geglaubt hatte. Aber dort war er, ja, es war Abend, und er sang ihr etwas vor. Sie legte den Kopf ins Kissen. Seine Worte bildeten eine Decke, und seine Stimme versprach Schutz. Papa, dachte sie.

Die Dielen knarrten. Ohne dieses Geräusch wäre Vera bei ihrem Lied geblieben, doch das knarrende Holz holte sie wieder in ihr Schlafzimmer zurück. Sie stieg aus der Tiefe ihres Herzens wieder hinauf, zurück ins Land der Grillen und des Mondlichts.

Sie öffnete die Augen, und da stand er und streckte die Hände nach ihr aus wie ein Geliebter. Dann tauchte sein Gesicht in den Lichtschein, und sie sagte: »Du?«

IM KATHARINENKLOSTER JABAL MUSA, BERG SINAI

De l’Orme stellte die Becher ab und legte den Brotlaib an seinen Platz. Der Abt hatte ihm eine Meditationszelle überlassen, eine von der Sorte, wie sie seit Tausenden von Jahren von den Menschen benutzt wurden, die hierher kamen und spirituelle Weisheit suchten.

Santos würde entzückt sein. Er liebte Einfachheit und Beschränkung. Der Weinkrug war aus Lehm. Die Bretter der Tischplatte waren vor mindestens fünf Jahrhunderten gezimmert und zusammengenagelt worden. Kein Vorhang vor dem Fenster. Nicht einmal eine Scheibe. Nur Staub und Insekten leisteten einem beim Beten Gesellschaft.

De l’Orme atmete in der Abendluft tief durch, sog den Weihrauchduft wie Sauerstoff ein. Sogar jetzt, im Winter, konnte er einen nicht weit entfernten Mandelbaum riechen.

Die Abendandacht begann. Im Hof stand ein Käfig mit einem Wellensittich, und sein Gesang passte wie die Noten eines kleinen Engels zum Kyrie der Mönche. In solchen Momenten verlangte es de l’Orme, wieder die Kutte zu nehmen oder zumindest sein Leben als Einsiedler in einer Zelle zu fristen. Aber dafür war es zu spät.

Santos kam in einem Jeep und scheuchte damit eine Herde Ziegen auf, wie man am Glockengebimmel und Hufgetrappel hören konnte. De l’Orme lauschte. Santos war allein.

Es dauerte nicht lange, bis er den Kopf in de l’Ormes Kammer streckte.

»Hier steckst du«, sagte er.

»Komm rein«, begrüßte ihn de l’Orme. »Ich wusste nicht, ob du es bis zum Einbruch der Nacht schaffst.«

»Hier bin ich«, sagte Santos. »Und du hast mit dem Abendessen gewartet. Ich habe nichts mitgebracht.«

»Setz dich, du musst müde sein.«

»Es war eine lange Reise«, gab Santos zu. »Ist Thomas schon beerdigt worden?«

»Heute. Auf dem Friedhof.«

»Ich habe ihn nie besonders gemocht. Aber du hast ihn geliebt. Geht es dir gut?«

»Das Leben geht weiter«, antwortete de l’Orme. Er erhob sich und umarmte Santos. Der Geruch des jungen Mannes tat ihm gut. Es schien, als habe Santos die Sonne in seinen Poren eingefangen.

»Er hat ein erfülltes Leben gelebt«, drückte Santos sein Mitgefühl aus.

»Wer weiß, was er noch alles entdeckt hätte?«, sagte de l’Orme.

Er klopfte auf den breiten Rücken und löste sich aus der Umarmung. Dann setzte er sich vorsichtig auf den dreibeinigen Hocker. Santos zog sich den Stuhl heran, den de l’Orme für ihn auf die andere Seite des Tisches gestellt hatte.

»Und jetzt? Was fangen wir jetzt an?«

»Zuerst essen wir«, sagte de l’Orme. »Über die Zukunft lässt sich besser bei einer guten Mahlzeit reden.«

»Oliven. Ziegenkäse. Eine Orange. Brot. Ein Krug Wem«, sagte Santos. »Alles Zutaten für das letzte Abendmahl.«

»Wenn du dich über Jesus lustig machen willst, ist das deine Sache. Aber mach dich nicht über das Essen lustig«, meinte de l’Orme. »Du musst nichts essen, wenn du keinen Hunger hast.«

»War nur ein kleiner Scherz. Ich bin halb verhungert.«

»Dann schenke den Wein ein.«

»Ich frage mich, was Thomas hierher geführt hat«, sagte Santos nach den ersten Schlucken. »Sagtest du nicht, er habe die Suche abgebrochen?«

»Ich glaube, dass ihn Satan hierher lockte«, antwortete de l’Orme.

»Was? Wie denn?«

»Vielleicht mit seiner Anwesenheit. Oder durch eine Nachricht. Ich weiß es nicht.«

»Dann hat Satan jedenfalls eine theatralische Ader«, bemerkte Santos zwischen zwei Bissen. »Ausgerechnet der Berg Gottes.«

Die Mönche in der Kirche strengten sich sehr an. Ihr tiefer Gesang ließ den Stein vibrieren. Herr, erbarme dich. Christus, erbarme dich. Herr, erbarme dich.

»Weinst du um Thomas?«, fragte Santos plötzlich.

De l’Orme machte keine Anstalten, die Tränen abzuwischen, die ihm über die Wangen rollten. »Nein«, sagte er. »Ich weine um dich.«

»Um mich? Weshalb denn das? Ich bin doch hier, bei dir.«

»Richtig.«

Santos senkte die Stimme. »Bist du nicht glücklich mit mir?«

»Das ist nicht der Grund.«

»Was dann? Sag’s mir.«

»Du stirbst«, sagte de l’Orme.

»Da irrst du dich«, lachte Santos erleichtert. »Mir geht es hervorragend.«

»Nein«, erwiderte de l’Orme. »Ich habe deinen Wein vergiftet.«

»Was für ein makabrer Scherz.«

»Es ist kein Scherz.«

In diesem Augenblick schlug Santos seine Hände vor den Bauch. Er richtete sich auf, und der Hocker fiel krachend auf die Steinfliesen.

»Was hast du getan?«, keuchte er.

Es war nicht besonders dramatisch. Er fiel nicht um, sondern kniete sich auf den Boden und legte sich hin. »Ist das wahr?«, fragte er.

»Ja«, nickte de l’Orme. »Schon seit Borobudur hatte ich dich in Verdacht. Du hast die Reliefs ausgelöscht.«

»Nein.« Der Protest war kaum mehr als ein Hauch.

»Nein? Wer denn sonst? Ich? Thomas? Sonst war niemand dort. Außer dir.«

Santos stöhnte auf. De l’Orme stellte sich vor, wie sein geliebtes weißes Hemd ganz schmutzig wurde.

»Du bist es, der es darauf angelegt hat, das Bild, das sich die Menschen von ihm gemacht haben, zu demontieren«, fuhr er fort.

Von unten drang ein heiseres Krächzen herauf.

»Ich kann mir nicht erklären, wie du es geschafft hast, mich vor so langer Zeit auszuwählen«, sagte de l’Orme. »Ich weiß nur, dass ich dein Schlüssel zu Thomas gewesen bin. Ich habe dich zu ihm geführt.«

Santos sammelte seine Kraft für einen letzten Atemzug. »... ganz falsch«, flüsterte er.

»Wie lautet dein Name?«, fragte de l’Orme.

Aber es war zu spät.

Eigentlich hatte er die ganze Nacht Totenwache halten wollen. Als es zu kalt wurde, hüllte er sich in eine Decke und legte sich neben den Leichnam auf den Boden. Am Morgen würde er den Mönchen seine Mordtat erklären. Was danach geschah, war ihm gleichgültig. Und so schlief er ein, Schulter an Schulter mit seinem Opfer.

Der Schnitt quer über seinen Unterleib weckte ihn.

Der Schmerz war so plötzlich und so extrem, dass ihm sofort klar wurde, dass es nur ein Albtraum sein konnte, also kein Grund zur Panik. Dann spürte er, wie das Tier in seinen Brustkorb eindrang, und er begriff, dass es kein Tier, sondern eine Hand war. Mit chirurgischem Geschick wanderte sie nach oben. Sein Kopf bog sich zurück, sein Körper konnte nicht zurückweichen und sich gegen diesen grausigen Übergriff wehren.