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»Santos!«, keuchte er.

»Nein. Nicht er«, murmelte eine Stimme, die er kannte.

De 1’Ormes Augen starrten in die Nacht.

So machten sie es in der Mongolei. Der Nomade öffnet den Bauch des Schafes mit einem raschen Schnitt, schiebt die Hand hinein und arbeitet sich durch die glitschigen Organe bis zum pochenden Herzen vor. Wenn man es richtig anstellt, ist es ein fast schmerzloser Tod. Allerdings musste es eine kräftige Hand sein, die das Organ zum Stillstand quetschte. Diese Hand war kräftig.

De l’Orme kämpfte nicht dagegen an. Auch das war ein Vorteil dieser Methode. Wenn die Hand erst einmal drin war, gab es nichts mehr zu kämpfen. Der Körper arbeitete bereitwillig mit. Kein Instinkt konnte einen Menschen auf solch einen Augenblick vorbereiten. Zu fühlen, wie sich fremde Finger um das eigene Herz schließen ... Sein Schlächter hielt den Kelch des Lebens in der Hand.

Er ließ den Kopf nach links rollen, und da lag Santos neben ihm, kalt wie Wachs. Sein Entsetzen war komplett. Er hatte sich versündigt. Jahr um Jahr hatte er die Güte des jungen Mannes empfangen, hatte sie auf die Probe gestellt und nie so recht daran geglaubt, dass sie echt sein könne. Und er hatte sich getäuscht.

De l’Orme stemmte sich ein wenig hoch, und der Arm schob sich weiter in ihn. Wie eine Puppe streckte er sich der Hand in seinem Brustkorb entgegen. Sanft legte er die eigenen Hände über sein Herz. Sein wehrloses Herz. Herr, erbarme dich.

Die Faust schloss sich.

In seinem letzten Augenblick kam ein Lied zu ihm. Es drang in sein Ohr, eigentlich unmöglich, aber so wunderschön. Die reine Stimme eines noch kindlichen Mönches? Das Radio eines Touristen, ein Stück aus einer Oper. Er erkannte, dass es der Wellensittich im Hof sein musste. Er stellte sich vor, wie der Mond über den Bergen aufging. Natürlich wachten die Tiere dabei auf. Natürlich brachten sie diesem herrlichen Schein ihr Morgenlied dar. Nicht einmal in seiner Phantasie hatte de l’Orme ein solches Licht gekannt.

Durch die Wunde eintreten. Durch die Venen zurückweichen.

Seine Aufgabe war erledigt. Wie jeder wahrhaft Suchende hatte er am Ende sich selbst gefunden. Jetzt brauchte ihn sein Volk, das sich voller Verzweiflung versammelte. Es war seine Bestimmung, seine Leute in ein neues Land zu führen, denn er war ihr Erlöser.

Er eilte hinab. Weg von ihrem Himmel, der wie ein umgestülptes Meer war, weg von ihren Sternen und Planeten, die einem die Seele durchbohrten, weg von ihren insektenhaften Städten, ihren Schwindel erregenden Ebenen und Bergen. Weg von den Milliarden, die sich die Welt nach ihrem eigenen Abbild geschaffen hatten. Ihre Handschrift hätte ein Instrument der Schönheit sein können, doch sie war ein Werkzeug des Todes.

Die Erde schloss sich über ihm. Mit jeder Windung, jeder Abzweigung blieb sie weiter hinter ihm zurück. Lange verschüttete Sinne erwachten zum Leben.

Einsamkeit! Stille! Die Dunkelheit war das Licht. Er konnte die Gelenke und das Herzblut des Planeten hören. Die Bewegung der Steine. Hier war die Zeit wie Wasser. Die unscheinbarsten Geschöpfe waren seine Väter und Mütter. Die Fossilien waren seine Kinder. Er streifte mit seinen Handflächen die Tunnelwände, krallte sich stolpernd in das Fleisch Gottes. In diesen herrlichen Stein. Diese Festung ihres Daseins.

Der Geruch des Gesteins führte ihn immer tiefer hinab. Er vergaß den Namen des Indischen Ozeans, als er unter ihm entlangeilte. Er spürte, wie Gold weich und schlangenhaft aus den Wänden rann, doch er erkannte es nicht mehr als Gold. Die Zeit verging, doch er hörte auf, sie zu zählen. Tage? Wochen? Er verlor seine Erinnerung ebenso rasch, wie er sie gewann.

Er sah sich selbst in einem Stück schwarzen Obsidian und wusste nicht, dass er es war. Sein Abbild hob sich als dunkle Silhouette inmitten der Schwärze ab. Er trat näher und legte die Hände auf das vulkanische Glas, starrte in sein sich spiegelndes Gesicht. Etwas um die Augen wirkte vertraut.

Er eilte weiter, müde, aber doch erfrischt. Die Tiefe gab seiner Kraft neue Nahrung. Hin und wieder brachten ihm Tiere ihr Fleisch zum Geschenk dar. Er fand Hinweise auf seine Flüchtlinge, und lange vor ihnen, auf hadalische Nomaden und fromme Pilger. Ihre an den Wänden hinterlassenen Markierungen erfüllten ihn mit Kummer über die verlorene Herrlichkeit seines Reiches.

Sein Volk war in Ungnade gefallen, jäh und steil und schon so lange, dass es sich kaum mehr seines Abstiegs bewusst war. Sogar jetzt noch, sogar in seiner Nichtigkeit und seinem Elend, wurde es im Namen Gottes verfolgt, und das durfte nicht sein. Denn sie waren Gottes Kinder und hatten lange genug in der Wildnis gelebt, um sich von ihren Sünden reinzuwaschen. Sie hatten für ihren Stolz oder ihre Unabhängigkeit oder womit auch immer sie die Ordnung der Natur beleidigt haben mochten, genug gebüßt, und jetzt, nach einem Exil von unzähligen Jahren, waren sie ihrer Unschuld zurückgegeben worden.

Es war falsch, dass Gott sie immer weiter bestrafte, bis zur Ausrottung jagen ließ. Aber Gott ließ niemals Gnade walten. Die Hoffnung, Gott würde sie von seinem Zorn erlösen und wieder in seine Liebe aufnehmen, war von jeher vergeblich gewesen. Nein, die Erlösung musste von anderer Seite kommen.

Die Toten haben keine Rechte.

THOMAS JEFFERSON

am Ende seines Lebens

25

Pandämonium

5. JANUAR 

Das Ende nahm seinen Anfang mit einem kleinen Ding, das Ali auf dem Boden erblickte. Es hätte ein Engel sein können, der dort unsichtbar für alle Augen bis auf ihre lag und ihr mitteilte, sie solle sich bereithalten. Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, setzte sie den Fuß auf die Nachricht und zermalmte sie. Wahrscheinlich war es ohnehin unnötig. Wer sonst hätte soviel aus einem roten M&M herausgelesen?

Das unscheinbare Öllämpchen steckte in Augenhöhe vor ihr in einer Felsspalte. Auf der stinkenden, improvisierten Latrine hockend, die Hände schmerzhaft gefesselt, schaffte Ali es trotzdem, die Finger in den Spalt zu zwängen. Sie erwartete eine versteckte Nachricht von Ike, aber als sie das Lämpchen herauszog, spürte sie den daran geknüpften Faden. Sie zog weiter, und der glatte Knauf eines Messers folgte.

»Was treibst du bloß da drin?«, rief der Wächter. Ali ließ das Messer in ihren Kleidern verschwinden, und der Wächter brachte sie in die kleine Kammer zurück, die zu ihrem Kerker geworden war. Mit klopfendem Herzen ließ sich Ali neben dem Mädchen nieder. Sie hatte Angst und war gleichzeitig wild entschlossen. Das war ihre Chance. Sollte sie ihre Fesseln durchtrennen oder noch abwarten? Welche Fähigkeiten traute Ike ihr zu? Er musste doch wissen, dass es gewisse Grenzen gab. Sie war eine Nonne.

Drei Söldner stolzierten mit einigem Abstand durch die Terrakotta-Armee, die den Turm bewachte. »Das ist reine Zeitverschwendung«, sagte einer, »der ist längst weg. An seiner Stelle wäre ich auch abgehauen.«

»Was haben wir überhaupt hier verloren? Wir sitzen fest. Will der Colonel sich vielleicht noch mal mit den Haddies anlegen?«

»Wir sind nur die Totenwache für ihn, Mann. Er will, dass wir ihm das Händchen halten, während er verfault. Und dann auch noch die ganze Zeit Gefangene durchfüttern. Ich habe die Schnauze voll.«

»Außerdem sitzen wir hier wie auf dem Präsentierteller. Frei zum Abschuss.«

»Wir müssen uns abseilen, Mann. Harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen. Der Colonel stiehlt uns die Zeit. Die Zivilisten stehlen uns das Essen. Und die Verwundeten sind sozusagen tot. Ziemlich beschissene Lage hier.«

»Wer macht noch mit?«

»Mit euch beiden sind wir zwölf. Dazu kommt der Schwachkopf Shoat. Er will einfach nicht den Code für seinen Peilsender ausspucken.«