Er war nicht muskulös wie ein Athlet oder ein Bodybuilder, aber seine Muskeln wanden sich wie drahtige Platten über seinen Körper. Sie schienen aus schierer Notwendigkeit aus seinen Knochen herausgewachsen und dann ohne besondere Symmetrie immer weiter gewuchert zu sein. Ali sah verwundert auf ihn herab.
Sein massiger Körper, seine Größe und die Silberbänder um seine Arme bekundeten so etwas wie eine Art Adelsstand. Er war beeindruckend, direkt majestätisch. Einen Moment lang fragte sie sich, ob diese barbarische Missbildung vielleicht sogar der Satan war, den sie suchte.
Die Suchscheinwerfer der Söldner machten alle Einzelheiten für alle sichtbar. Ali war nahe genug, um ihn allein schon auf Grund der Verteilung der Narben als Krieger zu erkennen. Es war gerichtsmedizinisch erwiesen, dass primitive Krieger dem Gegner beim Kampf normalerweise immer die linke Seite darboten. Bei diesem Barbaren wies die linke Seite von Kopf bis Fuß doppelt so viele alte Verletzungen auf wie die rechte. Sein linker Unterarm war beim Parieren heftiger Schläge schon mehr als einmal aufgeschnitten und gebrochen worden. Die aus seinem Kopf sprießenden Kalkauswüchse hatten eine geriffelte Oberfläche, und die Spitze eines Horns war wohl im Kampf abgeschlagen worden.
In der Rechten hielt er ein aus dem 16. Jahrhundert stammendes Samurai-Schwert. Mit seinen wilden Augen und der erdfarben bemalten Haut hätte er eine der Terrakottastatuen vom Wachtturm der Festung sein können. Ein Dämon, der ein Heiligtum bewachte. Dann erhob er die Stimme. Er sprach mit Londoner Akzent.
»Willst du um dein Leben betteln, mein Junge?«, fragte er sein erstes Opfer. Ali hatte diese Stimme schon einmal gehört. Aus dem Funkgerät. Sie hatte gesehen, wie sich Ikes Augen bei der Erinnerung an ihn vor Entsetzen geweitet hatten.
Isaak schüttelte den Sand vom Körper und wandte sich, ohne sich um seine Feinde zu kümmern, der Festung zu. Er ließ den Blick über die hohen Gebäude wandern und sog die Luft durch die Nasenlöcher ein, um eine bestimmte Witterung aufzunehmen. Er roch etwas. Dann antwortete er dem Ruf des Mädchens.
Es gab keinen Zweifel an dem, was gerade geschah. Sie hatten seine Tochter gestohlen. Jetzt forderte er sie zurück.
Bevor die Soldaten reagieren konnten, schnappte die Falle zu. Isaak sprang den ersten Soldaten an und brach ihm das Genick. Das größte Floß schnellte nach oben und hielt sich für Sekundenbruchteile auf der Klippe bis seine Insassen mit wild rudernden Armen ins schwarze Wasser stürzten. Immer mehr Lanzen harpunierten durch die Böden der Flöße, und ein verzweifelter Maschinengewehrschütze feuerte auf die eigenen Füße. Scheinwerfer schwenkten herum. Automatische Lichtblitze zuckten. Obsidian prasselte herab.
Die drei vor der Festung umzingelten Soldaten versuchten, den Eingang zu erreichen, doch von sämtlichen Mauern sprangen Hadal herunter und versperrten ihnen den Weg. Mit dem Rücken zur Wand rief einer der Männer: »Erinnert euch an Alamo!«, und sein Kumpel, ein Macho aus Miami, schrie: »Scheiß auf Alamo!« und schoss ihm durch den Kopf. Eine Sekunde später riss die Kugel des dritten Soldaten ein Loch zwischen seine Augen. Dann schob der Letzte sich den Lauf in den Mund und drückte ab.
Draußen auf dem Wasser schickte das Maschinengewehr noch einige Lichtbögen in den schwarzen Horizont, bis der Patronengürtel sich schließlich verhakte und der verbliebene Schütze sich ein Paddel schnappte und sich in Richtung offenes Meer davonmachte. In der nun einsetzenden Stille konnte man seine verbissene Flucht hören, Schlag für Schlag, wie Flügel.
Drinnen in der Festung wurde Colonel Walker bei lebendigem Leibe aufgefressen. Sie machten sich nicht erst die Mühe, ihn von der Wand loszuschneiden, sondern rissen sich einfach Stück um Stück von ihm ab, während er unaufhörlich Bibelstellen zitierte.
Hoch oben in der Festung rannte Ike auf der Suche nach Ali durch die Gänge. In dem Augenblick, in dem er den Schrei des Mädchens vernommen hatte, war er losgelaufen. Das Wasser von seinem Versteck am Strand troff noch an ihm herunter, als er die Stufen hinauf und durch die Korridore stürmte.
Er hätte wissen müssen, dass Ali ihr Messer auch zur Befreiung der anderen benutzen würde. Eine Nonne wusste eben nicht, wann es des Guten zu viel war. Hätte sie die anderen gut verschnürt ihrem Schicksal überlassen, dann wäre ihr Verschwinden gar nicht aufgefallen. Der Überfall der Hadal wäre wie ein sommerliches Gewitter vorübergezogen. Sie hätten ihre Speere mit Blut benetzt und Ike und Ali in ihrem Versteck zurückgelassen. Stattdessen durchkämmten sie jetzt das gesamte Gebäude auf der Suche nach dem wilden Mädchen. Und auf die eine oder andere Art würde dieses Mädchen Ali verraten. Er musste sie finden. Dann würden sie weitersehen.
Der Angriff der Hadal hatte sich schon seit Tagen zusammengebraut, doch Walker und seine Söldner hatten die Anzeichen dafür nicht bemerkt. Ike hingegen hatte von seinem Versteck in den Klippen aus beobachtet, wie die Hadal beinahe zeitgleich mit Walkers Truppen eingetroffen waren. Ihre Strategie war klar. Sie würden warten, bis die Soldaten mit den Booten ablegten, und erst dann angreifen, beim Übergang vom Land aufs Wasser. Da er den Plan kannte, hatte Ike sich einige Ablenkungsmanöver einfallen lassen, mögliche Verstecke ausfindig gemacht und sich alles geholt, was er von den Soldaten haben wollte. Neunzig Kilo Militärrationen und ein Floß. Nur Ali fehlte noch. Mit neunzig Kilo würden sie bis nach oben kommen. Er würde essen, was er finden konnte.
Ike setzte seine ganze Hoffnung auf seine Tarnung. Die Hadal wussten nicht, dass er sich auf ihrem Terrain bewegte. Er war wie sie mit Steinstaub, Ocker und Lumpen bedeckt. Seit Monaten hatte er das Gleiche wie sie gegessen, sich von Fleisch ernährt, roh oder in gedörrten Streifen. Sein Geruch war ihr Geruch, seine Fährte war ihre Fährte. Sie würden ihn nicht suchen. Noch nicht.
Er war bei der Treppe zum Turm angekommen und eilte nach oben. Ausstaffiert wie ein urzeitlicher Krieger stürmte Ike in voller Kriegsausrüstung in das Zimmer.
Chelsea saß auf der Fensterbank und baumelte mit den Beinen nach draußen, als wartete sie auf einen Bus. Was sie ins Zimmer hereinstürmen sah, war ein Hadal. Gerade in dem Augenblick, in dem Ike schrie: »Halt! Nicht!«, wollte sie sich über die Brüstung schwingen. Sie hörte ihn im letzten Moment.
»Ike?«, sagte sie. Doch das, was sie der Schwerkraft bereits anheim gegeben hatte, ließ sich nicht mehr zurückholen. Sie fiel aus dem Fenster.
Ike verschwendete keinen weiteren Blick an sie und rannte gleich auf die Bodenkammer zu. Sie war leer. Ali war weg. Er sah sich um. Keine Fußspuren. Keine Blutspur. Keine Kratzspuren von ihren Fingernägeln. Warum hatte sie den Raum verlassen? Warum hast du mich verlassen, dachte er. Dann fielen ihm die anderen ein. Vielleicht hatte sie Troy und das Mädchen mitgenommen. Aber hätte sie denn Chelsea allein gelassen? Allmählich wurde Ike klar, dass Ali ihn suchen gegangen war.
Die Erkenntnis war ein Hoffnungsschimmer. Wenn er ihre Vermutungen nachvollzog, war es noch nicht zu spät. Aber die Chancen standen schlecht. Sie wusste nichts von den siebzig Meter höher gelegenen Höhlen in den Klippen, auch nichts von seinem Versteck zwischen Sandwürmern und Röhrenmuscheln. Sie würde hier in der Festung nach ihm suchen, wo es von Hadal wimmelte.
Ike schätzte seine Chancen ab. Natürlich konnte er durch das Gebäude schleichen und kriechen, aber seine Suche war kein Versteckspiel, sondern eher ein Wettlauf. Die einzige Alternative bestand darin, sich zu verraten und zu hoffen, dass sie das Gleiche tat.
»Ali!«, schrie er. Er ging durch die Tür und rief ihren Namen. Dann lauschte er, ging zum Fenster und rief wieder.
Tief unten drehten sich die Hadal, die sich gerade über ihre Beute hermachten, zu ihm um und schauten nach oben. Die Boote wurden ausgeräumt, die Vorräte geplündert. Er sah, dass einige der kräftigeren Söldner schon unter dem Messer lagen. Die gewaltigen Fleischstreifen würden getrocknet und geräuchert werden. Mindestens zwei von ihnen waren lebend gefangen worden und wurden jetzt zum Transport fertig gemacht. Am Strand trieben sich gut und gerne einhundert Hadal herum, wahrscheinlich noch einmal so viele streiften durch die Kammern und Gänge der Festung. Es war eine gewaltige Streitmacht, die hier an einem Ort zusammengezogen worden war. Ike hatte bis jetzt elf verschiedene Clans gezählt.