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Es lag auf der Hand, dass die Kirche sie in ihrem Sinne knetete, nur wofür, das konnte sie nicht genau sagen. Bis vor einem Jahr hatte ihr Lebenslauf einen gleichmäßigen Aufstieg gezeigt. Mit einem Mal, ohne Vorwarnung und ohne weitere Erklärung, hatte man sie in diese Flüchtlingskolonie im Hinterland der Buschleute geschickt. Von den glitzernden Kathedralen der westlichen Zivilisation direkt in die Steinzeit. Ans Ende der Welt hatte man sie expediert, wo sie sich bei dieser angeblichen Mission in der Wüste Kalahari in Geduld üben durfte.

Ihrer Veranlagung gemäß hatte Ali das Beste daraus gemacht. In Wahrheit war es ein schreckliches Jahr gewesen. Aber sie war zäh. Sie hatte sich arrangiert. Angepasst. Bei Gott, sie war sogar erfolgreich gewesen. Hatte damit angefangen, die Geschichten von einem »älteren« Stamm aufzudröseln, der sich angeblich im Hinterland versteckte. Wie alle anderen hatte Ali zunächst die Vorstellung von einem steinzeitlichen Stamm, der an der Schwelle zum 21. Jahrhundert noch immer unentdeckt geblieben war, von sich gewiesen. Natürlich war das ganze Gebiet Wildnis, aber doch eine Wildnis, die inzwischen hinlänglich von Bauern, Fernfahrern, Buschpiloten und Feldforschern aufgesucht oder durchfahren worden war - von Leuten also, die zumindest stichhaltige Hinweise auf einen derartigen Stamm hätten finden müssen. Erst nach drei Monaten hatte Ali sich etwas ernsthafter mit den Gerüchten der Eingeborenen befasst.

Am spannendsten fand sie die Vorstellung, dass ein solcher Stamm tatsächlich zu existieren schien, und dass die Belege dafür hauptsächlich linguistischer Natur waren. Wo auch immer sich dieser merkwürdige Stamm verbergen mochte, seine verborgene Sprache schien überall im Busch lebendig zu sein, und jeden Tag schien sie dem Phänomen einen Schritt näher zu kommen.

Zum größten Teil hing ihre Jagd mit dem Khoisan, der Schnalz-Sprache der Buschleute, der San, zusammen. Sie machte sich keine Illusionen darüber, diese Sprache jemals selbst zu beherrschen, insbesondere die vielen verschiedenen dentalen, palatalen und labialen stimmhaften, stimmlosen oder nasalen Lautsysteme. Aber mit Hilfe eines San-Kung-Übersetzers hatte sie sich allmählich eine ganze Reihe von Worten und Lauten angeeignet, die die San nur in einer bestimmten Tonlage ausdrückten. Diese Tonlage war ehrerbietig, religiös und uralt, und die Worte und Laute unterschieden sich von allem, was sonst auf Khoisan ausgedrückt wurde. Sie wiesen auf eine Wirklichkeit hin, die sowohl alt als auch neu war. Dort draußen war jemand - oder hatte sich zumindest vor langer Zeit dort aufgehalten. Oder war vor kurzem zurückgekehrt. Aber um wen es sich auch handeln mochte, sie sprachen eine Sprache, die noch vor der prähistorischen Sprache der San datierte.

Und jetzt war dieser Mittsommernachtstraum jäh unterbrochen worden. Sie holten sie von ihren Ungeheuern weg. Von ihren Flüchtlingen. Ihren Beweismitteln.

Kokie hatte angefangen, leise vor sich hinzusingen. Ali machte sich wieder ans Packen, wobei sie ihren Gesichtsausdruck vor dem Mädchen hinter dem aufgeklappten Kofferdeckel verbarg. Wer sollte sich von nun an um diese Menschen kümmern? Was würden sie Tag für Tag ohne sie anfangen? Was würde sie, Ali, ohne ihre Schutzbefohlenen anfangen?

»... uphondo Iwayo/yizwa imitbandazo yethu/Nkosi sikelela/Thina lusapho iwayo ...«

Die Worte drängten sich in düstere Gedanken. Im vergangenen Jahr hatte sie sich in den Sprachmischmasch, der in Südafrika gesprochen wurde, regelrecht verbissen, besonders in Nguni, zu der auch die Sprache der Zulu gehörte. Einzelne Bruchstücke aus Kokies Lied offenbarten sich ihr: Gott segne uns Kinder/Komm, oh Geist, komm Heiliger Geist/Gott segne uns Kinder.

»O feditse dintwa/Le matswenyecho ...« - Beende die Kriege und all unsere Sorgen ...

Ali seufzte. Diese Leute wollten nicht mehr als Frieden und ein bisschen Glück. Bei ihrer Ankunft hatte hier alles wie am Morgen nach einem Wirbelsturm ausgesehen. Die Kranken hatten im Freien geschlafen, fauliges Wasser getrunken und auf den Tod gewartet. Mit ihrer Hilfe hatten sie jetzt wenigstens behelfsmäßige Unterkünfte, einen Brunnen und den Ansatz zu einer ländlichen Industrie, in der riesige Ameisenhügel als Schmieden zur Herstellung einfacher bäuerlicher Werkzeuge wie Hacken und Schaufeln benutzt wurden. Sie hatten Alis Erscheinen nicht gerade freudig begrüßt, damit hatten sie sich Zeit gelassen. Doch ihre Abreise verursachte ihnen echten Schmerz. Sie hatte ein wenig Licht in ihre Dunkelheit gebracht, oder zumindest Medizin und Ablenkung.

Es war einfach nicht fair! Ihre Anwesenheit hatte ihnen viel Gutes gebracht. Und jetzt wurden sie für ihre Sünden bestraft. Es gab keine plausible Erklärung dafür. Sie würden nicht begreifen, dass es sich lediglich um die Taktik der Kirche handelte, Ali kleinzukriegen.

Sie hätte vor Wut aus der Haut fahren können. Vielleicht war sie ein bisschen zu stolz, manchmal auch ein bisschen ketzerisch. Launisch auch, ja. Und ganz gewiss taktlos. Sie hatte den einen oder anderen Fehler begangen, aber wer wollte sich ernsthaft davon freisprechen? Sie war sicher, dass ihre Versetzung von Afrika weg etwas damit zu tun hatte, dass sie irgendwo irgendjemandem auf die Füße getreten war. Vielleicht wurde sie auch nur wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt.

Mit zitternden Fingern glättete Ali ein Paar KhakiShorts, und der alte Monolog rumorte wieder in ihrem Kopf herum wie eine gesprungene Schallplatte. Tatsache war, dass sie keine halben Sachen mochte. Sie rannte nun mal nicht mit der Meute, sondern immer vorneweg.

Vielleicht hätte sie sich die Veröffentlichung dieses Gastkommentars in der Times noch einmal gründlich überlegen sollen, in dem sie darauf anspielte, der Papst verweigere sich hartnäckig allen Dingen, die etwas mit Abtreibung, Geburtenkontrolle und dem weiblichen Körper im Allgemeinen zu tun hatten. Oder ob sie diesen Essay über Agatha von Aragomen, die mystische Jungfrau, die Liebesgedichte verfasste und Toleranz predigte, hätte schreiben sollen. So etwas kam bei den Jungs von der alten Garde nicht sonderlich gut an. Und sich vor vier Jahren dabei erwischen zu lassen, als sie in der Kapelle von Taos die Messe abhielt, war reine Torheit gewesen. Selbst leere Kirchenwände hatten noch um drei Uhr morgens Augen und Ohren. Noch idiotischer war es gewesen, sich, nachdem sie ertappt worden war, der Äbtissin zu widersetzen und darauf zu bestehen, dass auch Frauen das liturgische Recht zum Weihen der Hostien besäßen, als Priester zu amtieren und natürlich auch als Bischöfe und Kardinale. Sie hätte mit ihrer Liturgie durchaus noch weiter ausgeholt und auch den Papst miteinbezogen, hätte der Erzbischof sie nicht mit einem Blick zum Erstarren gebracht.

Ali war um Haaresbreite an einer offiziellen Rüge vorbeigeschrammt. Sie schien ständig kurz vor dem Rausschmiss zu stehen. Streit und Meinungsverschiedenheiten folgten ihr wie ausgehungerte Hunde. Nach dem Zwischenfall in Taos hatte sie es »auf die orthodoxe Weise« versucht. Es war vor einem guten Jahr gewesen, in der Altstadt von Den Haag, bei einem vornehmen Cocktail-Empfang mit Generälen und Diplomaten aus einem Dutzend Ländern, anlässlich der Unterzeichnung eines obskuren NATO-Papiers. Der päpstliche Nuntius war ebenfalls anwesend. Auch der Ort war unvergessen, ein unter dem Namen Rittersaal bekannter Trakt des Binnerhof-Palastes, ein mit Kostbarkeiten aus der Renaissance überladener Raum, darunter sogar ein echter Rembrandt. Ebenso lebhaft erinnerte sie sich an die Manhattans, die ein gut aussehender Colonel auf Geheiß ihrer boshaften Mentorin January ohne Unterlass für sie anschleppte.

Ali hatte dieses Teufelszeug noch nie getrunken, und es war schon einige Jahre her, dass sie ein edler Ritter derart bedrängt hatte. Alles zusammen hatte ihr die Zunge gelöst. Sie hatte sich heftig in eine Diskussion über Spinoza verrannt und war irgendwie bei einem leidenschaftlichen Vortrag über Glasdeckenkonstruktionen in patriarchalischen Institutionen und die ballistische Energie eines unschuldigen Steines angelangt. Ali errötete noch heute, wenn sie sich an die Totenstille im ganzen Saal erinnerte. Zum Glück hatte January sie gerade noch rechtzeitig mit ihrem tiefen schwarzen Lachen gerettet, sie rasch zuerst zur Damentoilette und anschließend ins Hotel und unter die kalte Dusche gezerrt. Gott mochte ihr vergeben haben - der Vatikan nicht. Innerhalb weniger Tage war Ali ein Ticket nach Pretoria und in den Busch zugestellt worden. Einfache Fahrt.