Mit dem Messer voran kam sie auf der anderen Seite heraus. Gerade als sie sich aufrichtete, trat er von hinten an sie heran, warf ihr eine Schlinge um den Hals und zog zu. Sie stach mit dem Messer nach hinten, doch er bohrte ihr das Knie in den Rücken, was sie sofort zu Fall brachte. Er war schnell und stark, fesselte Handgelenke und Ellbogen mit Schlingen und zog das Seil straff.
Die Gefangennahme dauerte zehn Sekunden und verlief in absoluter Stille. Erst jetzt wurde ihr klar, wer hier wen gejagt hatte. Das Humpeln, der sträfliche Mangel an Vorsicht, das war alles nur vorgetäuscht. Er hatte sich ihr als leichte Beute angeboten, und sie war darauf hereingefallen. Sie wollte ihre Wut laut herausschreien, doch in diesem Augenblick spürte sie den Knebel.
Ihr kam der Gedanke, dass es sich bei ihm womöglich um einen Hadal handelte, der seine menschlichen Schwächen nur vortäuschte, doch dann sah sie im schwachen Schimmerlicht des Felsens, dass er wirklich ein Mensch war. Seine Hautmuster verrieten den ehemaligen Gefangenen, und sie wusste auch sofort, wer er war. Die Legenden erzählten von diesem Abtrünnigen, der so viel Leid über ihr Volk gebracht hatte. Die Geschichte seines Verrats wurde allen Kindern als Beispiel für Entfremdung und Ungehorsam erzählt.
Er sprach mit ihr in schwerfälligem Hadal, dessen Schnalzer und Worte fast unverständlich waren. Seine Aussprache war barbarisch und seine Frage dumm. Wenn sie ihn richtig verstanden hatte, wollte er wissen, in welcher Richtung das Zentrum lag, und das machte sie misstrauisch. Sie hoffte darauf, dass er sich verlaufen hatte und sie ihn noch weiter in die Irre führen konnte, und so zeigte sie in die falsche Richtung. Er lächelte wissend, tätschelte ihren Kopf - eine unerhörte, wenn auch neckische Beleidigung -, und sagte etwas in seiner ausdruckslosen Sprache. Dann zog er an ihrer Leine und ließ sie den Pfad hinuntertraben.
In der Zeit, die sie als Gefangene bei den Söldnern verbracht hatte, war das Mädchen nie besonders berührt gewesen. Sie war allein gewesen, und das bedeutete, nicht mehr als ein Schatten seiner selbst zu sein. Ihr Leben war einfach ein Teil des größeren sangha, der Gemeinschaft, und ohne das sangha war sie im Grunde tot. So war es eben. Doch jetzt stellte sie dieser schreckliche Feind in die Gemeinschaft ihres Volkes zurück, und sie wusste, dass er sie auf irgendeine Weise gegen das sangha benutzen würde. Und das wäre schlimmer als tausend Tode.
Es hatte Ike eine Woche gekostet, um das Mädchen aufzuspüren, und dann noch mal zwei Tage, um sie zu ködern. Wohin sie unterwegs war, konnte er nur vermuten. Aber sie schien fest entschlossen gewesen, ihm zu folgen, also vertraute Ike darauf, dass dieser Tunnel zu dem Ort führte, an den er gelangen wollte.
Er spürte, dass die gesamte Unterwelt in Bewegung war, fast so, als dränge sie sich in einen noch tiefer gelegenen Schlupfwinkel hinein. Dieser immer tiefer werdende Tunnel, das fühlte er, führte ins Zentrum jener Mandalakarte, die sie in der Festung gefunden hatten. Dort würde er eine Antwort auf das Verschwinden der Hadal finden. Dort würde er auch Ali finden. Jetzt, da er das Mädchen in seiner Gewalt hatte, wurde Ike wieder zuversichtlicher.
Weil er wusste, dass sie sich lieber töten würde, als ihm bei seinem Plan behilflich zu sein, durchsuchte er das nackte Mädchen. Er fuhr mit den Fingern über ihre Gliedmaßen und entdeckte drei unter der Haut versteckte Obsidiansplitter, einen an der Innenseite des Bizeps, die beiden anderen am Oberschenkel. Sie waren zu genau diesem Zweck gedacht. Mit dem Messer ritzte er die Haut gerade so weit auf, um ihr die kleinen, rasiermesserscharfen Klingen herauszuziehen.
Das Mädchen war genau die Geisel, die er brauchte. Ike musterte sie. Fast jeder Gefangene, dem er hier unten begegnet war, war seelisch gebrochen gewesen und hatte nur dumpf darauf gewartet, als Packtier eingesetzt zu werden, als Fleischvorrat, als Opfer oder als Köder, um weitere Menschen herunterzulocken. Diese Gefangene nicht. Sie bestimmte ihr eigenes Schicksal, zumindest so weit, wie es hier unten möglich war. Ike schätzte sie auf ungefähr vierzehn Jahre. Er sah die Stammeszeichen rings um ihre Augen und auf den Armen, kannte den Clan jedoch nicht. Sie war wohl von Geburt an als Hadal erzogen worden.
Ebenso unübersehbar war, dass man sie zur Fortpflanzung bestimmt hatte. Ihre Brüste waren makellos und unbemalt, zwei weiße Früchte, die aus der Ansammlung von Stammessymbolen herausragten, die den Rest ihres Körpers bedeckten. Auf diese Weise war den Säuglingen in den ersten Lebensmonaten Ruhe und Frieden gesichert.
Mit der Zeit fing das Kind dann an zu lernen, indem es die Haut seiner Mutter las.
Abgesehen von den Obsidianklingen bestand ihr einziger Besitz aus ihrem Nahrungsvorrat: einem schlecht getrockneten Unterarm mitsamt verkrümmter Hand, an deren Gelenk noch immer eine Helios-Uhr befestigt war. Das meiste Fleisch war bereits bis zum Knochen abgenagt. Ike war vor zwölf Tagen an Troys sterblichen Überresten vorbeigekommen.
Da seine eigene Uhr bei der Zerstörung der Festung kaputt gegangen war, nahm er diese. Es war 2.40 Uhr und der 14. Januar, aber inzwischen hatte die Zeit für ihn keine Bedeutung mehr. Der Höhenmesser zeigte 7950 Faden, also fast 15 Kilometer unter der Meeresoberfläche, tiefer als jeder bislang bekannte Abstieg in die Abgründe der Erde. Das allein war von Bedeutung. Denn die Tiefe war es, die das letzte Bollwerk der Hadal in ihrem Schoß verbarg.
Ike hatte viele kleine Hinweise auf einen zentralen Zufluchtsort gefunden. Schließlich mussten die Hadal irgendwo geblieben sein. Es war unwahrscheinlich, dass sie sich an vielen verschiedenen Stellen versteckt hielten, denn in diesem Fall wären sie häufiger Soldaten oder Kolonisten ins Gehege gekommen. Vor allem der Angriff auf die Festung hatte seine Theorie bestätigt. Die Hadal hatten für den Kampf gegen eine kleine Gruppe menschlicher Eindringlinge eine ungewöhnlich große Zahl von Angreifern zusammengezogen. Bestimmt hatten sie sich hier unten an einem Ort versammelt, den sie absolut unangetastet bewahren wollten, einem Ort, der so alt wie ihre kollektive Erinnerung war.
Deshalb hatte sich Ike dazu entschlossen, Ali und ihre Kidnapper nicht über das Wasser zu verfolgen und dabei mehrere Wochen zu verlieren, sondern immer weiter hinabzusteigen. Bis dahin musste Ali ohne ihn überleben. Er konnte ihr das, was auch er zu Beginn seiner Gefangenschaft durchlitten hatte, nicht ersparen, und er konnte sich keine Verzweiflung leisten, also versuchte er, sie ganz und gar zu vergessen.
Eines Morgens wachte Ike auf und hatte gerade von Ali geträumt. Doch es war das Mädchen, das da rittlings und mit gefesselten Armen auf ihm saß und sich auf seiner Hose hin und her rieb. Sie bot sich ihm zu seinem Vergnügen an, und Ike kam einen Augenblick lang sogar in Versuchung.
»Du bist eine schlaue Füchsin«, flüsterte er mit ehrlicher Bewunderung. Das Mädchen war fest entschlossen, jeden Vorteil zu nutzen. Und sie verachtete ihn zutiefst. Genau das war Troys Verderben gewesen. Ike war sicher, dass der Junge der gleichen Verführung nachgegeben und damit sein Schicksal besiegelt hatte.
Er hob das Mädchen zur Seite. Nicht ihre offenkundige Gerissenheit gab ihm zu denken, auch nicht der Traum von Ali. Nein, das Mädchen kam ihm irgendwie bekannt vor. Er hatte sie schon einmal gesehen, und das beunruhigte ihn, denn es musste zurzeit seiner Gefangenschaft gewesen sein, als sie noch ein kleines Kind war. Aber er konnte sich nicht an ein solches Kind erinnern.
Tag für Tag gelangten sie tiefer hinunter. Ike erinnerte sich an die Überzeugung der Geologen, dass sich vor einer Million Jahren eine Blase aus Schwefelsäure gebildet habe, die durch die Erdkruste nach oben gestiegen sei und die Höhlen in der oberen Lithosphäre gebildet habe. Als sie den gewaltigen, ungleichmäßig ausgebildeten Höllenschlund hinabstiegen, fragte sich Ike, ob diese Säureblase sich nicht genau hier ihren Weg nach oben gebahnt habe. Das physikalische Geheimnis sprach den Bergsteiger in ihm an. Wie tief konnte dieser Schlund wohl hinabreichen? Von welcher Stelle an wurde solch ein Abgrund unerträglich?