In einer Tiefe von 8700 Faden, fast 16 Kilometern, erreichten sie den Rand einer Klippe über einer ausgedehnten Schlucht. Ein Bach vereinigte sich mit anderen Wasserläufen und ergoss sich als Wasserfall über die Klippe. Das Gestein war von Fluorinen durchzogen und sorgte für eine geisterhafte Beleuchtung. Sie standen am Rand eines abschüssigen Tals, das sich teilweise bis zu den Felswänden heraufzog. Ihr Wasserfall war nur einer von Hunderten.
Der Pfad wand sich über eine Gesteinsplatte aus olivgrünem Fels und war dort, wo es die natürlichen Gegebenheiten erforderten, ins blanke Gestein gehauen. An einer Stelle waren die Bruchstücke eines gewaltigen Stalaktiten zu einer Brücke zusammengefügt worden. Eisenketten überspannten dunkle Abgründe.
Der Abstieg erforderte Ikes gesamte Konzentration. Der Weg war uralt, links und rechts stürzten die Wände Hunderte von Metern steil ab. Das Mädchen fand, dass dies der richtige Zeitpunkt war, ihre gemeinsame Reise zu beenden und warf sich ohne jede Vorwarnung ins Nichts. Um ein Haar hätte sie auch Ike mit sich gerissen, doch es gelang ihm gerade noch, das wild um sich tretende Wesen wieder nach oben zu ziehen und in Sicherheit zu bringen. In den folgenden drei Tagen musste er ständig auf solche Ausbrüche gefasst sein.
Sie aßen nur wenig, meistens Insekten und ein paar von den Schilfschösslingen, die in der Nähe des Wassers gediehen. Ike hätte auf die Suche gehen können, überlegte es sich jedoch anders. Abgesehen davon, dass sie so schneller vorankamen, machte der Hunger das Mädchen gefügiger. Sie befanden sich tief in feindlichem Gebiet, und er hatte vor, noch tiefer einzudringen, ohne Alarm auszulösen. Deshalb hielt er Hunger für eine bessere Maßnahme als straffe Fesseln.
Am Boden trieb Nebel in großen, ausgefransten Inseln dahin. Ike konnte sich diese Wolkenbildung nur durch die vielen Wasserfälle erklären. Ihr Geräusch sorgte für ein gleichmäßiges Donnern im Hintergrund, das von hoch aufragenden Felstürmen ein wenig gedämpft wurde. Links und rechts des Weges verliefen geschickt angelegte Kanäle, ohne die wohl der gesamte Boden der Schlucht überflutet gewesen wäre. Zum großen Teil war das System noch intakt, nur hier und dort waren die Rinnen verschüttet, und sie mussten durch überschwemmte Senken waten. Gelegentlich hörten sie Musik, doch es war nur Wasser, das durch die Überreste von Instrumenten rann, die in den Gehweg eingelassen waren.
Ike konnte an der Besorgnis des Mädchens ablesen, dass sie dem Zentrum immer näher kamen. Schließlich erreichten sie ein Spalier menschlicher Mumien, die links und rechts den Weg säumten.
Ike und das Mädchen gingen zwischen ihnen hindurch. Das, was von Walker und seinen Leuten übrig geblieben war, hatte man hier aufrecht festgebunden, insgesamt dreißig von ihnen. Ihre Schenkel und Oberarme waren rituell verstümmelt. Die Augen waren ausgestochen und durch runde, weiße Marmorkugeln ersetzt worden. Da die Steinaugen ein bisschen zu groß waren, verliehen sie den Schädeln ein grausames, insektenhaftes Glotzen. Die beiden Soldaten, denen er im Vulkan das Leben gerettet hatte, standen dort, auch der schwarze Lieutenant, schließlich Walkers Kopf. Als Akt der Verachtung hatten sie sein getrocknetes Herz in seinen Bart geflochten, damit es alle sehen konnten. Hätten sie ihn als Feind respektiert, hätten sie das Herz an Ort und Stelle verspeist.
Jetzt war Ike froh, dass er seine Gefangene ausgehungert hatte. Im vollen Besitz ihrer körperlichen Kräfte hätte sie sein unbemerktes Vordringen sehr gefährden können. So konnte sie jedoch kaum einen Kilometer gehen, ohne eine Pause einzulegen. Schon bald würde sie, wie er hoffte, genug zu essen bekommen und wieder frei sein. Und Ali, die ihn jede Nacht in seinen Träumen besuchte, würde wieder bei ihm sein.
Am 23. Januar unternahm das Mädchen einen Versuch, sich in einem der Kanäle zu ertränken, indem es ins Wasser sprang und sich unter einem kleinen Vorsprung verkeilte. Obwohl Ike sie sofort herauszog, wäre es fast zu spät gewesen. Er riss ihr den Knebel heraus und pumpte das Wasser aus ihren Lungen. Sie lag schlaff vor seinen Knien, besiegt und enttäuscht. Von dem wütenden Handgemenge erschöpft, mussten sich beide ausruhen.
Später fing sie mit geschlossenen Augen an zu singen. Es war ein Lied, das sie sich selbst zum Trost sang, leise und auf Hadal. Zuerst wusste Ike gar nicht, was sie da tat, so dünn war ihre Stimme. Dann hörte er es, und es kam ihm vor, als hätte ihn jemand ins Herz getroffen.
Ungläubig schaukelte Ike in der Hocke vor und zurück. Er hörte genauer hin. Die Worte waren zu kompliziert für seinen beschränkten Wortschatz. Aber die Melodie war unverkennbar. Das Mädchen sang »Amazing Grace«.
Das Lied raubte ihm beinahe den Verstand. Es war ihr unverkennbar ebenso vertraut und teuer wie ihm. Es war das Letzte, was er je von Kora gehört hatte, ihr Gesang, als sie vor so vielen Jahren in die unendlichen Tiefen unterhalb Tibets hinabsank. I once was lost, but now am found, was blind, but now I see. Das Mädchen hatte einen eigenen Text erfunden, doch die Melodie war genau die gleiche.
Isaak war ihr Vater, aber Ike konnte keine Ähnlichkeit mit ihm feststellen. Ausgelöst durch das Lied, erkannte Ike jetzt Koras Züge im Gesicht des Mädchens wieder. Fieberhaft suchte er nach anderen Erklärungen. Vielleicht hatte Kora ihr diese Melodie nur beigebracht. Oder Ali hatte sie ihm vorgesungen. Andererseits schleppte er schon seit Tagen dieses unbestimmte Gefühl mit sich herum, dass er sie schon einmal gesehen hatte. Etwas um ihre Stirn- und Wangenpartie, die Art, in der sie eigensinnig den Unterkiefer vorschob, die ganze Größe und Gestalt ihres Körpers. War das denn möglich? So manches entsprach dem Bild ihrer Mutter, aber so vieles auch nicht: ihre Augen zum Beispiel und die Form ihrer Hände.
Müde öffnete sie die Augen. Er hatte Kora nicht in ihnen gesehen, weil es nicht Koras türkisgrüne Augen waren. Und doch waren ihm diese Augen vertraut. Erst jetzt wurde es ihm klar.
Das waren seine Augen! Sie war seine eigene Tochter!
Ike ließ sich gegen die Felswand sinken. Das Alter stimmte. Die Haarfarbe auch. Er verglich ihre Hände. Sie hatte die gleichen langen Finger, seine Nägel.
»Mein Gott«, flüsterte er. »Was nun?«
In seinem bruchstückhaften Hadal fragte er: »Mutter. Du. Wo?«
Sie hörte auf zu singen und hob den Blick. Ihre Gedanken waren leicht zu erraten. Sie sah seine Verwirrung und witterte sofort eine Gelegenheit. Doch als sie versuchte, sich von dem nassen Stein zu erheben, versagte ihr der Körper den Dienst.
»Sprich bitte deutlicher, Tier-Mann«, sagte sie höflich und sehr langsam auf Hadal.
Für Ikes Ohren hatte sie so etwas wie »Was?« ausgedrückt. Er versuchte es noch einmal, kehrte seine Frage um, suchte nach dem richtigen Satzbau. »Wo. Deine. Mutter.«
Sie schnaubte verächtlich, und er wusste, dass seine Worte sich für sie wie Grunzen anhörten. Ihre Augen ruhten die ganze Zeit auf seinem Messer mit der schwarzen Klinge. Ike wusste, dass es das eigentliche Objekt ihrer Begierde war. Sie wollte ihn töten.
Diesmal kratzte er ein Zeichen auf den Boden und verband es dann mit einem anderen. »Du«, sagte er. »Mutter.«
Sie machte eine kurze, elegante Bewegung mit den Fingern, und das genügte als Antwort. Über die Toten sprach man nicht. Sie wurden jemand - oder etwas -anderes. Und da man nie wissen konnte, welche Gestalt sie bei ihrer Wiedergeburt annahmen, war es klüger, sie überhaupt nicht zu erwähnen. Ike ließ es dabei bewenden.
Natürlich war Kora tot. Und falls nicht, würde er das, was von ihr übrig war, höchstwahrscheinlich nicht mehr erkennen. Trotzdem saß vor ihm ihre Hinterlassenschaft. Und genau dieses Kind wollte er als Pfand benutzen, um Ali auszulösen. Jedenfalls war das sein Plan gewesen, doch mit einem Mal kam es ihm vor, als sei das Rettungsfloß, das er aus lauter Wrackteilen zusammengebastelt hatte, selbst wieder zum Wrack geworden.