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Es war grausam, plötzlich mit seiner Tochter konfrontiert zu sein, von der er nie etwas gewusst hatte, und die in etwas verwandelt war, in das auch er sich beinahe verwandelt hätte. Was sollte er tun? Sie retten? Und dann? Offensichtlich hatten die Hadal sie angenommen und zu einer der ihren gemacht. Sie hatte keine Ahnung, wer sie war oder aus welcher Welt sie stammte. Was für eine Rettung sollte das also sein? Er blickte auf den schmalen, bemalten Rücken des Mädchens. Seit er sie gefangen genommen hatte, hatte er sie wie ein Stück Vieh behandelt. Das Einzige, was man ihm zu Gute halten konnte, war, dass er sie weder geschlagen noch vergewaltigt und auch nicht getötet hatte. Meine Tochter? Er ließ den Kopf hängen.

Wie konnte er sein eigen Fleisch und Blut zum Tausch anbieten, selbst für die Frau, die er liebte? Doch wenn er es nicht tat, musste Ali bis ans Ende ihrer Tage in Gefangenschaft bleiben. Seine Tochter hatte keine Ahnung von ihrer Herkunft. Ihr Platz war bei den Hadal, wie entbehrungsreich dieses Leben auch sein mochte. Sie von hier wegzuschleppen, bedeutete, ihr die einzigen Wurzeln zu nehmen, die sie besaß. Und Ali hier zurückzulassen, was bedeutete das? Wahrscheinlich rechnete sie nicht damit, dass er die Explosion in der Festung überlebt hatte und nach ihr suchte. Also würde sie es auch niemals erfahren, wenn er jetzt umkehrte und sein Kind mitnahm. So wie er sie kannte, würde sie dieser Entscheidung sogar zustimmen. Und was würde dann aus ihm werden? Er war ein Fluch geworden, für alle, die er jemals geliebt hatte.

Er spielte mit dem Gedanken, das Mädchen freizulassen. Das jedoch wäre nur ein feiges Ausweichen vor der Entscheidung. Er konnte nur die eine oder die andere Richtung wählen. Den Rest der Nacht quälte er sich mit diesen Gedanken.

Als das Mädchen aufwachte, überraschte Ike es mit einem Frühstück aus Larven und bleichen Knollengewächsen. Außerdem lockerte er ihre Fesseln. Er wusste, dass er die Dinge nur unnötig verkomplizierte, wenn er ihr zu neuer Kraft verhalf, und dass seine Gewissensbisse, weil er sein Kind misshandelt hatte, letztendlich nichts anderes als lebensgefährliches Moralisieren waren. Trotzdem konnte er seine Tochter nicht länger hungern lassen.

Er rechnete nicht damit, dass sie ihm antwortete, fragte sie aber trotzdem nach ihrem Namen. Sie verdrehte die Augen über so viel Dummdreistigkeit. Kein Hadal würde einem Gefangenen jemals diese Macht in die Hände spielen. Kurz darauf führte er sie wieder den Pfad hinab, wenn auch aus Rücksicht auf ihre Erschöpfung ein wenig langsamer.

Seine Entdeckung quälte ihn. Nach der Rückkehr zu den Menschen hatte Ike sich geschworen, nur noch zwischen Schwarz und Weiß zu wählen. Bleib immer deinen Grundsätzen treu. Weichst du davon ab, bist du tot. Eine Sache, die sich nicht innerhalb von drei Sekunden entscheiden ließ, war zu kompliziert.

Obwohl er nicht genau wusste, wie es so weit gekommen war, glaubte Ike doch fest daran, dass er sich für jeden einzelnen Schritt, der ihn in diese Situation geführt hatte, selbst entschieden hatte. Aber hatte seine Tochter jemals die Entscheidung getroffen, in der Dunkelheit geboren zu werden? Und niemals ihren leiblichen Vater kennen zu lernen?

Die Stimmen des Wassers begleiteten ihre Reise in die Unterwelt. Mit verbundenen Augen verbrachte Ali die ersten Tage damit, dem Meer zu lauschen, das an dem von Amphibienwesen gezogenen Floß vorbeirauschte. An den folgenden Tagen ging es tiefer hinab, an schäumenden Kaskaden vorbei und hinter gewaltigen Wasserfällen entlang. Als sie endlich ebenes Gelände erreichten, überquerten sie immer wieder Bäche auf groben Steinbrocken. Das Wasser war ihr einziger Anhaltspunkt.

Sie hielten sie abseits von den beiden Söldnern, die ihnen lebend in die Hände gefallen waren. Einmal jedoch, als ihr die Augenbinde ein wenig verrutschte, sah sie die Gefangenen im ewigen Zwielicht, das von den phosphoreszierenden Flechten ausging. Die Männer waren mit Stricken aus geflochtener Haut gefesselt und aus ihren Wunden ragten immer noch Pfeile hervor. Einer sah Ali mit entsetzten Augen an, und sie machte für ihn das Zeichen des Kreuzes. Dann schob ihr ein Bewacher die Binde wieder fest über die Augen, und sie gingen weiter. Erst später wurde Ali klar, warum man den Söldnern die Augen nicht verbunden hatte. Es war den Hadal egal, ob die beiden Soldaten den Pfad sahen oder nicht. Keiner von ihnen würde ihn jemals wieder betreten.

Diese grausame Erkenntnis war gleichzeitig ihre Hoffnung. Die Hadal hatten nicht vor, sie in nächster Zeit zu töten. Sie klammerte sich mit einer Gier an diesen Gedanken, die sie bisher nicht gekannt hatte. Nie hätte sie geglaubt, wie rücksichtslos der Willen zum Überleben war und wie wenig Heroisches er an sich hatte. Gestoßen, gezerrt, getragen und getrieben, taumelte sie weiter. Man tat ihr nichts zu Leide. Sie wurde nicht vergewaltigt. Aber sie litt.

Obwohl sie ihr regelmäßig Essen anboten, hatte sie großen Hunger. Ali weigerte sich, das Fleisch zu essen. Der Anführer der Gruppe kam zu ihr.

»Aber meine Liebe, Sie müssen doch etwas essen«, sagte er in perfektem Oxford-Englisch. »Wie wollen Sie sonst diese Pilgerfahrt beenden?«

»Ich weiß, woher dieses Fleisch stammt«, sagte sie. »Ich habe diese Leute gekannt.«

»Aber gewiss. Nun, Sie sind anscheinend noch nicht hungrig genug.«

»Wer sind Sie?« Ihre Stimme war nur noch ein Krächzen.

»Ein Pilger, genau wie Sie.«

Aber Ali wusste es besser. Bevor man ihr die Augen verbunden hatte, hatte sie gesehen, wie er die Hadal herumkommandierte und wie sie ihm gehorchten. Aber auch ohne diese Beweise sah er genau so aus, wie man sich Satan vorstellte: die tief ins Gesicht gezogene Stirn, die asymmetrischen, gewundenen Hörner und die über und über tätowierte Haut. Er war größer als die meisten Hadal, hatte mehr Narben und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der von einem Wissen um die Dinge des Lebens kündete, das Ali auf keinen Fall mit ihm teilen wollte.

Nach ihrer Unterhaltung wurde Alis Speiseplan auf Insekten und kleine Fische umgestellt. Sie würgte alles herunter. Am Abend taten ihr die Beine weh, die sie sich immer wieder an vorstehenden Felsen stieß. Ali hieß den Schmerz willkommen. Er half ihr, zumindest eine Weile nicht zu trauern. Vielleicht wäre es ihr möglich gewesen, überhaupt nicht zu trauern, wenn sie wie die Söldner auch noch Pfeile mit sich hätte herumschleppen müssen. Doch die Wirklichkeit lag ständig auf der Lauer, um sie anzuspringen. Ike war tot.

Schließlich erreichten sie eine Stadt, die so alt war, dass sie eher wie ein zerbröckelnder Berg aussah. Das war ihr Ziel. Ali wusste es, weil ihr hier die Augenbinde abgenommen wurde. Müde, verängstigt und zugleich fasziniert stieg sie die ansteigenden Straßen hinan. Die Stadt lag in einem Gletscher aus Fließstein, von dem ein schwaches Leuchten ausging. Das Ergebnis war weniger Licht als ein schwacher Schimmer, in dem Ali immerhin erkennen konnte, dass die Stadt auf dem Grund einer gewaltigen Schlucht stand. Die sich langsam voranarbeitende mineralische Flut hatte schon einen Teil der Stadt verschluckt, doch viele der Gebäude ragten noch heraus und waren nun wie Bienenwaben zugänglich.

Geschleift von der Zeit und dieser geologischen Belagerung, war die Stadt dennoch nicht unbewohnt. Zu Alis Erstaunen hatten sich hier Tausende, wenn nicht gar Zehntausende Hadal versammelt. Dieser Ort war die Antwort auf die Frage, wohin die Hadal verschwunden waren. Es war, wie Ike gesagt hatte: Sie waren auf der Flucht. Und diese Stadt war ihr Ziel.

Die kleine Karawane erklomm einen Hügel in der Mitte der Stadt, auf dem sich die Überreste eines Palastes über dem bernsteinfarbenen Fließstein erhoben. Ali wurde in einen Korridor geführt, der sich in der Ruine wie eine Wendeltreppe hinaufwand. Sie sperrten sie in eine Bibliothek und ließen sie allein.