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Ali sah sich erstaunt in dieser Schatzkammer um. Das also sollte die Hölle sein, eine Bibliothek unentzifferbarer Texte? Wenn ja, dann hatten sie die falsche Bestrafung für sie gewählt. Sogar eine kleine Öllampe hatten sie ihr gelassen, ähnlich denen, die Ike damals entzündet hatte. Aus der Tülle zuckte ein blaues Flämmchen.

Ali begann, mit Hilfe dieses Lichtleins ihre Umgebung zu erforschen, war jedoch beim Herumgehen nicht vorsichtig genug, und so ging die Flamme nach kurzem Zucken aus. Jetzt stand sie in der Dunkelheit, unsicher, verängstigt und allein. Mit einem Mal holte sie die lange Reise ein, und sie legte sich einfach auf den Boden und schlief ein.

Als Ali Stunden später erwachte, flackerte in der entgegengesetzten Ecke des Raums eine zweite Lampe. Als sie darauf zuschritt, löste sich eine Gestalt in einem weiten Umhang von der Wand. »Wer bist du?«, fragte eine Männerstimme. Sie klang müde und mutlos, wie ein Geist. Ali war mit einem Schlag hellwach. Das musste noch ein Gefangener sein! Sie war nicht allein!

»Und wer bist du?«, fragte sie zurück. Als sie keine Antwort erhielt, trat sie kurzerhand auf den Unbekannten zu und zog ihm die Kapuze aus dem Gesicht.

Es war nicht zu glauben. »Thomas!«

»Ali?«, entgegnete er ungläubig. »Was machen Sie denn hier?«

Als sie ihn umarmte, spürte sie seine Knochen an Rücken und Brustkorb hervorstehen. Der Jesuit hatte noch immer das gleiche zerfurchte Gesicht wie damals, als sie ihn im Museum in New York kennen gelernt hatte. Nur seine Stirn war dicker geworden, sein grauer Bart war schon mehrere Wochen alt, und auch sein Haar war lang, grau und von Dreck verklebt. Seine Augen waren unverändert. Sie hatten immer noch diesen weit gereisten Ausdruck.

»Was haben sie Ihnen angetan?«, fragte sie. »Wie lange sind Sie schon hier unten? Warum sind Sie überhaupt hier?«

Sie half dem alten Mann, sich hinzusetzen, brachte ihm etwas Wasser. Er lehnte sich an die Wand und wollte nicht aufhören, ihr vor Glück und Freude die Hand zu tätscheln. »Es ist Gottes Wille«, sagte er immer wieder.

Mehrere Stunden vergingen, bis sie einander ihre Geschichten erzählt hatten. Er habe sich auf die Suche nach ihr gemacht, berichtete Thomas, sobald die Nachricht vom Verschwinden der Expedition an die Oberfläche durchgedrungen sei. »Ihre Wohltäterin, January, hat mich unermüdlich an die Verantwortung der Beowulf-Gruppe Ihnen gegenüber erinnert. Am Ende kam ich zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab. Ich musste selbst nach Ihnen suchen.«

»Aber das ist doch verrückt«, sagte Ali. Ein Mann in seinem Alter, und dann auf eigene Faust!

»Hat aber trotzdem geklappt«, erwiderte Thomas vergnügt.

Er war von einer Tempelruine in Java aus in einen Tunnel hinabgestiegen, hatte gegen die Dunkelheit angebetet und versucht, die ungefähre Route der Expedition zu erraten. »Ich habe mich nicht besonders geschickt angestellt«, gab er zu. »Es dauerte nicht lange, bis ich mich total verlaufen hatte. Meine Batterien gingen zur Neige, ebenso die Lebensmittelvorräte. Als mich die Hadal mitnahmen, war es weniger eine Gefangennahme als ein Akt der Nächstenliebe. Aber wer kann schon sagen, warum sie mich nicht gleich getötet haben? Oder Sie?«

Seit seiner Ankunft hatte Thomas zwischen diesen Textbergen geschmachtet. »Ich dachte, sie würden meine Knochen einfach zwischen den Büchern verfaulen lassen«, sagte er. »Aber jetzt sind Sie hier!«

Im Gegenzug erzählte Ali vom Niedergang der Expedition. Sie berichtete auch von Ikes Selbstopferung in der Hadal-Festung.

»Sind Sie sicher, dass er tot ist?«, fragte Thomas.

»Ich habe es selbst gesehen.« Ihre Stimme versagte. Thomas sprach ihr sein Beileid aus.

»Es war Gottes Wille«, sagte Ali schließlich. »Und dieser Wille hat uns auch hierher geführt, in diese Bibliothek. Wir sollen unsere Aufgabe hier zu Ende bringen. Gemeinsam werden wir der Ursprache vielleicht ein Stück näher kommen.«

»Sie sind eine bemerkenswerte Frau«, sagte Thomas.

Sie machten sich mit ungebremstem Eifer ans Werk, stellten Textgruppen zusammen und verglichen ihre Beobachtungen. Sie durchforsteten Bücher, einzelne Blätter, alte Handschriften, Schriftrollen und Texttafeln. Die Anordnung der Werke folgte keiner bestimmten Logik. Es sah eher aus, als hätte sich der Schriftenberg dort wie eine Schneewehe angesammelt. Sie stellten die Lampe zur Seite und vergruben sich in den größten Haufen.

Das am weitesten oben liegende Material war neueren Datums, einiges sogar auf Englisch, Japanisch oder Chinesisch. Je tiefer sie vordrangen, desto älter wurden die Schriften. Einige Seiten lösten sich unter Alis Fingern auf. Auf anderen hatte sich die Tinte durch mehrere Lagen beschriebenen Papiers gefressen. Einige Bücher waren von mineralischen Verkrustungen fest verschlossen. Die meisten lieferten ihnen jedoch Schriften und Glyphen in Hülle und Fülle. Glücklicherweise war der Raum ziemlich groß, denn schon bald hatten sie einen symbolischen Sprachenbaum auf dem Boden ausgelegt, an dessen Ästen ein Bücherstapel neben dem anderen hing.

Nach fünf Wochen hatten Ali und Thomas Alphabete zu Tage gefördert, die noch kein Linguist je zu Gesicht bekommen hatte. Ali trat einen Schritt von ihrer Arbeit zurück und musste feststellen, dass sie lediglich eine dünne Schicht des angehäuften Schriftenberges abgetragen hatten. Vor ihnen lagen die Anfänge der Sprache, die Anfänge der Geschichte. In gewissem Sinne enthielten die Funde auch den Beginn der Erinnerung, sowohl der Menschen als auch der Hadal. Was mochte sich in der Mitte verbergen?

»Wir müssen uns ausruhen. Wir dürfen uns nicht verausgaben«, gab Thomas zu bedenken. Er hustete fast ununterbrochen. Ali half ihm in seine Ecke und zwang sich dazu, ebenfalls eine Pause einzulegen. Aber sie war zu aufgeregt.

»Ike erzählte mir einmal, die Hadal wollten sein wie wir«, sagte sie. »Aber sie sind schon wie wir. Und wir wie sie. Das hier ist der Schlüssel zu ihrem Paradies. Auch wenn es ihnen ihre alte Herrlichkeit nicht mehr zurückbringt, so kann es sie doch verankern, ihnen einen Zusammenhalt als Volk vermitteln. Es kann die Kluft zwischen ihnen und uns überbrücken. Das hier ist der Beginn ihrer Rückkehr zum Licht. Oder zumindest der Souveränität ihrer Rasse. Vielleicht können wir eine gemeinsame Sprache finden. Vielleicht finden wir einen Platz für sie - in unserer Mitte. Oder sie finden bei sich einen Platz für uns. All das hat jedenfalls hier seinen Anfang!«

Die Folterung von Walkers Männern begann. Ihre Schreie drangen bis zu Ali und Thomas herauf. Nach und nach verstummten sie. Nach einer Nacht des Schweigens war Ali überzeugt davon, die Männer seien gestorben. Doch dann setzten die Schreie wieder ein und hielten, mit einigen Unterbrechungen, noch mehrere Tage an.

Bevor Ali und Thomas ihre Gelehrtenarbeit wieder aufnehmen konnten, bekamen sie einen Besucher. »Das ist der, von dem ich Ihnen erzählt habe«, flüsterte sie Thomas zu. »Ich glaube, er ist ihr Anführer.«

»Das ist möglich«, erwiderte Thomas. »Aber was hat er mit uns vor?«

Der tätowierte Riese kam mit einer zerkratzten Plastikröhre auf sie zu, die die Aufschrift HELIOS trug. Ali erkannte ihre Kartentrommel sofort wieder. Er ging direkt auf sie zu. Sie roch das frische Blut an ihm. Seine Füße waren nackt. Er schüttelte die Karten heraus und entrollte sie.

»Das hier ist in meinen Besitz gelangt«, sagte er in seinem steifen Englisch.

Ali wollte ihn schon fragen, wo er die Trommel gefunden hatte, überlegte es sich dann aber anders. Offensichtlich war Gitner und seiner Gruppe die Flucht nicht gelungen.

»Sie gehören mir«, sagte sie.

»Ja, ich weiß. Die Soldaten haben es mir erzählt. Leider sind es noch keine brauchbaren Karten. Sie zeigen nur den ungefähren Verlauf Ihrer Expedition. Ich will aber mehr. Details. Umwege. Abweichungen. Jedes Lager, jeden Abend. Wer war im Lager, wer nicht. Ich will alles wissen.«